Marianne Pabst & Virginia Spuhr

EMANZIPATION

Überlegungen zu Notwendigkeit und Wesen menschlicher Emanzipation

„Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“ (Walter Benjamin im „Passagenwerk“)1

Alle Menschen sind gleich. Jeder Mensch ist einzigartig.

Betrachten wir die Familie Helmut Kohl, so sticht ins Auge: Er, der Kanzler der Wiedervereinigung, der mit Leib und Seele für so vieles steht, was genuin deutsch ist, und sie, die Verkörperung des aushaltenden Leidens, waren ein zunächst gegensätzliches Paar. Er hat sie trotz höheren Herzinfarktrisikos überlebt. Sie erfuhr viele Formen männlicher Gewalt, sexuelle und emotionale, und konnte zum Schluß, wie sinnträchtig, die Sonne nicht mehr ertragen. Als Bild steht dieses Ehepaar dafür, das trotz Gleichberechtigung auf so vielen Ebenen der Gesellschaft Unterschiede zwischen den Menschen bestehen, die sich nicht weg-diskursivieren lassen. Dieses Bild verlöre durch gender-dekonstruierendes Lesen seinen Wahrheitsgehalt: Das Geschlecht spielte eine Rolle. Ebenso die ökonomische Situation der beiden- so konnte Hannelore beispielsweise nicht Physik oder Mathematik studieren, wie sie es wünschte, sondern lernte Fremdsprachensekretärin und Stenographie, womit sich als Frau schneller Geld verdienen ließ. Sie waren einander nicht gleich und auch nicht einzigartig, sondern Helmut und Hannelore stehen exemplarisch. Ganz im Sinne des Erste-Welle-Feminismus prangert dieses Bild an: Frauen erledigen immer noch die Drecksarbeit der Gesellschaft und wo es Männern schlecht geht, geht es Frauen immer noch ein großes Stückchen schlechter.

Als Simone de Beauvoir sagte, als Frau werde man nicht geboren, sondern zu einer gemacht, meinte sie einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Struktureller Sexismus und Frauenfeindlichkeit sind immer noch die Parameter, in denen Frauen sich bewegen müssen. Keine Frau (oder Trans oder…) in unserem Freundeskreis, die nicht unter Seximus leidet. Möglicherweise sind es am ehesten solche Erfahrungen, die das Weiblichsein ausmachen, einen Menschen zur Frau machen im unangenehmsten Sinn.

Politische und menschliche Emanzipation

Die Frage nach der Emanzipation ist die Frage nach der Umwälzung der Verhältnisse hin zu einer Gesellschaft, welche die Assoziation freier Individuen ermöglicht. Orientiert man sich (auch begrifflich) an Marx, so ist die politische Emanzipation der Menschen, in unserem Beispiel von Hannelore und Helmut Kohl die Emanzipation der Frau und der ökonomisch weniger Vermögenden, hier zwar gegeben: Sowohl Wenigverdienende als auch Frauen können wählen und gewählt werden und sind im Subjektbegriff unseres Rechtssystems unter dem generischen Maskulinum subsumiert. Was jedoch mit menschlicher Emanzipation bei Marx gemeint ist, kann nicht verstanden werden als Gleichstellung in diesem formalistischen Sinne, der die Lebensrealität der Einzelnen ausspart und existierende Ungleichheiten, die Gewalterfahrung für eine gesellschaftliche Gruppe beinhaltet, ignoriert. Um die Begriffe der politischen und menschlichen Emanzipation, des Subjekts und der Lebensrealität klarer zu umreißen, ist es sinnvoll, eine kurze Geschichte des Begriffs darzustellen und weiterzugehen, um so über Kritik an der bestehenden Gesellschaft zu dem zu kommen, was die Vergangenheit erlöst.

Emanzipation und Unmündigkeit

Die Idee der Emanzipation ist in der Aufklärung verankert: Der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“2 ist denkbar als Emanzipation des und der Einzelnen, doch wird hierin die gesellschaftliche Dimension der Unmündigkeit nicht beachtet. Zudem ist auch das kantianische Ideal nicht zu seiner Erfüllung gekommen – zu widerspruchsvoll ist die Geschichte, die auf die französische Revolution folgte. Was eigentlich zu mehr Humanität und Gerechtigkeit führen sollte, führte in den NS und die Shoa. Heute über die Aufklärung reden heißt ihr Potential, ihre Ideale zu bewahren, aber kritisch mit der Unmenschlichkeit umgehen, die in ihr als blinder Fortschrittsglaube angelegt war.

Schon Kant spricht von einer „zur Natur gewordenen Unmündigkeit“3. Naturgesetze beinhalten immer ewige Gültigkeit, so soll es auch der Unmündigkeit ergehen – Kant jedoch warf diese Idee der Natürlichkeit um, indem er den entmenschlichten Geist von der Natur befreite und ihn bereinigte. Gemeinsam mit der christlichen Lehre verdrängt die Aufklärung das sinnliche, das weltlich-dingliche im Menschen, die Natur. Aufklärung wurde zur Unterdrückung der „Natur“, einer Natur, die begrifflich nie das war, was sie ist – immer bereits von Menschen vorgefunden und in menschlichen Kategorien ausgedrücktes Objekt, Gegenüber und Inneres des Menschen, also auch Teil der eigenen Subjektivität. Was die Aufklärung also an Natur beherrschte, beherrschten die Menschen fortan an sich selbst.

Aufklärung

Das Thema der Aufklärung, sich aus der Unmündigkeit herauszuarbeiten, hat seine Aktualität heute teils verloren und teils behalten. Verloren, da es nicht um die Befreiung aus Absolutismus und Heteronomie, also Fremdherrschaft geht. Demokratie und Kapitalismus bringen andere Formen von Herrschaft mit sich. Die Freiheit, Eigentum zu besitzen und einen Arbeitsplatz zu wählen, ist beschränkt, wenn nicht alle Menschen gleichermaßen die Möglichkeit dazu haben. Zudem ist sie eine rechtliche Freiheit, die zwar die Herrschaft des vorneuzeitlichen feudalen Herrschers beendet, aber nun verschleiert, dass die realen Ungleichheiten nicht durch ein formales Festlegen von Gleichheit verschwinden und Freiheit und Gleichheit als rechtliche Kategorien einiges von ihrem emanzipatorischen Wesen verloren haben. Geblieben ist von der Notwendigkeit von Auklärung also, dass ihre Verwirklichung sich nicht vollstreckte, ihr Ideal wartet noch immer auf den Dornröschenkuss, der ihn weckt.

Die Errungenschaft des Christentums, ohne die Aufklärung nicht denkbar wäre, ist der in Jesus Mensch gewordene Gott. Dies erhebt den Menschen, den Einzelnen, da dieser sich allein vor Gott verantworten muss; die Gemeinschaft tritt in den Hintergrund. Die Aufklärung verweltlicht die Heilige Dreifaltigkeit – Gott, Jesus, Heiliger Geist – in Staat, Subjekt und Recht. Vermittels dem Recht hat sich das Subjekt zu verantworten vor dem Staat, welcher selbst allgemeines Subjekt ist. Wenn also der Mensch in der christlichen Theologie durch Jesus Christus frei werden konnte, so kann es nun das Subjekt durch das Recht, welches es erst zum freien Subjekt erklärt.

Das Christentum brachte auch die Trennung von Körper, Geist und Seele mit sich; sowie in der Gestalt Martin Luthers auch die Abwertung der menschlichen Vernunftfähigkeit4 – berühmt ist sein Ausspruch: „Also ist die Vernunft von Art und Natur eine schädliche Hure.“5 Frei sein durfte der Mensch im Inneren, für sich - frei im Geist. Das hat der Idealismus übernommen – Kant wollte die menschliche Vernunft verteidigen, indem er sie kritisierte - und indem er sie scharf von der Dingwelt abtrennte. Die objektiven Lebensbedingungen spielten für diese Betrachtung keine Rolle. Das Subjekt, der innerlich freie Mensch, ist also nur die Abstraktion des Menschen. Konkret ist der Mensch nur als besonderer, einzelner, organischer Mensch. Dass der Mensch als Subjekt gleich und frei ist, wo er die Freiheit des anderen nicht einschränkt, ist konkret nicht wahr. Daran ist zu sehen, dass die Basis, auf der die Demokratie mit ihrer Gleichsstellung und den Gendermainstreaming-Programmen steht, eine unzureichende ist.

Individuum und Subjekt

So zerfällt der Mensch als Doppelwesen in individuelles Indiviuum und vor dem Recht gleiches Subjekt, in Citoyen und Bourgeois, als besonderer Mensch ist er dem Recht ein Nichts, nur Hülle des Subjekts. Aus der kantianischen Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt, wird im Staatsrecht die Gleichheit der Individuen als Rechtssubjekte. „Der empirische Mensch gilt dem Souverän nur dann und nur insoweit als Subjekt, indem er als sinnliche Darstellung des transzendentalen Subjektes fungiert, d.h. als das organische Material der ideell-praktischen Allgemeinheit. Außerhalb dieser Funktionalisierung ist er buchstäblich ein Niemand und ein Nichts.“6 Der Einzelne in seiner Einzigartigkeit wird, entledigt all seiner Eigenschaften, zum Gleichen vor dem Recht. Seine Eigenschaften werden zur Privatsache, solange er sich als Subjekt behaupten kann. Dies jedoch gilt nicht uneingeschränkt: „Wer wegen Geistesschwäche, wegen Verschwendung, Trunksucht oder Rauschgiftsucht entmündigt oder wer […] unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist, steht in Ansehung der Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen gleich, der das siebente Lebensjahr vollendet hat.“7 Das Gesetz fiel zwar 1992 weg, doch bleibt ja noch der § 105 des BGB:

  1. Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig.
  2. Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird.

Die Frage kann hier nicht lauten, ob etwas recht oder unrecht ist an diesem Gesetz, vielmehr sollen die Bedingungen, unter denen ein Mensch seinen Subjektstatus, gar das Recht auf einen Willen hat, herausgestellt werden. Es ist nun also so, dass Subjekt ist, wer sich selbst verwerten kann. Der doppelt freie Lohnarbeiter ist die grundlegende Bedingung, unter der ein Mensch erst in der Menschheit frei ist, selbst zu sein und selbst zu wollen.8 Die Assoziation freier Individuen ist natürlich nicht die Gemeinschaft der Deutschen, aber auch nicht die Gesellschaft der Subjekte.

Die Gleichheit der Subjekte im Kapitalismus bedingt den Tauschprozess: Die einzelne Arbeit, die konkrete Arbeit des Einzelnen, wird vergleichbar erst durch die Abstraktion der allgemeinen Arbeit. Die Einzelnen, die ihre Haut, ihre Ware Arbeitskraft, zu Markte tragen, werden vergleichbar durch die Abstraktion der bestimmten geleisteten Arbeit zu allgemeiner abstrakter Arbeit; die Ware wird abseits ihres Gebrauchswerts zum Träger von Tauschwert. „Die Waren können nicht selbst zu Markte gehn und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehn, den Warenbesitzern. Die Waren sind Dinge und daher widerstandslos gegen den Menschen. Wenn sie nicht willig, kann er Gewalt brauchen, in andren Worten, sie nehmen. Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehn, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willensakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Dies Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. Wir werden überhaupt […] finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.“9

Die Freiheit und Gleichheit des Rechtsverhältnisses sind also zuvorderst ökonomische, wie der (gelöschte) § 114 BGB (s.o.) bezeugt; das warenbesitzende Subjekt ist als Charaktermaske nur der Träger der Ware, sei es eines Dinges oder seiner Ware Arbeitskraft, die er im Tausch veräußert. Aus der ökonomischen Freiheit ist nicht die Freiheit von ökonomischen Ängsten und Sorgen geworden, sondern die Freiheit von Produktionsmitteln und die Freiheit, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen.10 Dennoch ist diese Freiheit der Subjekte zu verteidigen als zwar ideologisches Konzept des Bürgertums, das eine rechtliche Kategorie ist und nicht den ganzen Menschen befreit, aber das als solches doch wenigstens existiert und so Grundlage bildet für die vollkommene Befreiung, die menschliche Emanzipation.

Was an Verschiedenheit bleibt, wird nicht als strukturell bedingte Ungleichheit gesehen, die sich niederschlägt z.B. in schlechterem Verdienst von Frauen gegenüber Männern, sondern wird als naturgegeben verklärt oder mit Hilfsprogrammen auszugleichen versucht: Antidiskriminierungsgesetz, Nachteilsausgleich, Sozialhilfe, Gleichstellungsprogramme. Solche Programme zeugen davon, dass die gesellschaftliche Struktur nicht von vielen verschiedenen Menschen, die dennoch einander gleichgestellt sind, ausgeht, sondern alte, offiziell überkommene Ungleichheiten zementiert. Der Versuch, mit Hilfestellung dem Herr zu werden, ist eine Notlösung. Das ist politische Emanzipation. Diese Form von Emanzipation geht einher mit dem Glauben, dass die Verhältnisse so wie sie sind, grundlegend nicht veränderbar, höchstens leicht zu korrigieren wären. Dass aber diese Verhältnisse, diese Ungleichheiten, reines Menschenwerk sind und nicht naturbedingt durch Geschlecht, Herkunft, oder die angebliche Veranlagung des Menschen, egoistisch und gierig zu sein etc., gilt es zu erkennen. Wie Menschen sind, wenn sie frei leben, können wir nicht wissen – die freie Gesellschaft, in der freie Menschen existieren, ist noch nicht verwirklicht. Bilder wie die der Robinsonade oder Sciencefiction-Werke wie Huxleys „Brave New World“ spielen mit dieser scheinbaren Unmöglichkeit des Menschen, frei und gleichzeitig vernünftig zu sein. In der materialistischen Wirklichkeit jedoch ist die Möglichkeit einer vernünftigen Gesellschaft freier Individuen enthalten, auch sie wäre Menschenwerk.

„Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andrerseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person.

Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine »forces propres« als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“11 Entfremdung verstellt das Erkennen der „eigenen Kräfte“ bei der Gestaltung des Lebens, sodass es sich anfühlt, als würden die Gesellschaftsprozesse über unsere Köpfe hinweg laufen und wir uns ihnen unbedingt anpassen müssen, doch ist dies eine fetischisierte Sichtweise. Kapital und Staat, über die Herrschaft im demokratischen Kapitalismus vermittelt sind, formen unsere Realität, aber auch der Einzelne und die Menschheit. Was ist Entfremdung? Wie kam es dazu, dass Menschen vergessen konnten, was sie selbst schufen?

„Alle Verdinglichung ist ein Vergessen“12

Entfremdung heißt zunächst das Vergessen der Prozesse, die zur Entstehung der Dinge geführt haben. Dieses Vergessen ist eine grundlegende Erfahrung in der modernen Gesellschaft. An einem Beispiel erläutert: die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen ist hausgemacht; das Vergessen der historischen Prozesse, die sie entstehen ließen, führt dazu, diese Ungleichbehandlung mit einer scheinbar natürlichen Ungleichheit zu verwechseln. Damit ist keinesfalls ein „kollektives Gedächtnis“ gemeint. Das Vergessen ist ein gesamtgesellschaftliches Prinzip und strukturell durch die Lebens-und Produktionsbedingungen im Kapitalismus bedingt13.

„Die Veräußerung ist die Praxis der Entäußerung. Wie der Mensch, solange er religiös befangen ist, sein Wesen nur zu vergegenständlichen weiß, indem er es zu einem fremden phantastischen Wesen macht, so kann er sich unter der Herrschaft des egoistischen Bedürfnisses nur praktisch betätigen, nur praktisch Gegenstände erzeugen, indem er seine Produkte, wie seine Tätigkeit, unter die Herrschaft eines fremden Wesens stellt und ihnen die Bedeutung eines fremden Wesens - des Geldes – verleiht“14

Entfremdung führt genau dazu, dass Menschen ihre Verstrickung, ihre Vermittlung mit der Gesellschaft verkennen. Sie halten sich im Privaten für frei, im Öffentlichen Leben aber für unfrei – beides ist nur halb wahr. Bedürfnisse, Gedanken, Wünsche, Lebensentwürfe, Meinungen etc. sind im Privaten bereits verdinglicht – so kann eine Frau wie Eva Hermann ernsthaft behaupten, zurück an den Herd zu gehen würde ihr und allen anderen Frauen gefallen und diese Behauptung auch glauben, ohne dabei zu hinterfragen, wie dieses fragwürdige „Gefallen“ entsteht. Zurück zur Herrschaft des Menschen über sich selbst. Die Internalisierung des früheren oder mythischen Opfers vor den Göttern, durch das man sich vor ihrem Zorn schützte, wandelt sich durch die Aufklärung in ein Opfer vor sich selbst: Die Naturbeherrschung des Menschen, die Herrschaft über seine eigene Natur, ist notwendig für Zivilisation und zugleich in der Unterdrückung des Irrationalen ihr Untergang. Unter diesen Umständen erscheint die Vernunft rational, die noch nicht zu ihrer Rationalität gekommen ist: der unversöhnte Zustand gibt sich aus als versöhnter. Irrationalität wird zum Schlagwort, dass auf alles schlägt, was sich nicht in instrumentelle Vernunft einfügt, auf alles, was im Begriff nicht seinen Rahmen findet – die Dinge schweigen, bloßer Konstruktivismus noch lässt die Welt erscheinen als was sie sein will: immer schon kapitalistisch, immer schon nach dem Fortschrittsprinzip organisisert. Natur wird verzerrt: ein Wort, das herhält, für alles, was sein soll, aber erst dahin zurechtgebogen werden muss, damit das Ganze funktioniert. „In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon in der Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar. Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhaltung aufgelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, als dessen Funktion die Leistungen der Selbsterhaltung einzig sich bestimmen, eigentlich gerade das, was erhalten werden soll.“15

Die Rationalisierung der Herrschaft, Implementierung des Staatssubjekts als vernünftigen Herrscher über die Gesamtheit der Subjekte, die Herrschaft des Subjekts über den kreatürlichen Menschen, wird zur Herrschaft des Mittels über den Zweck und was doch zuallererst das Leben der Menschen miteinander und in der Welt vernünftig machen sollte wird schlussendlich Wahnsinn.

„Die Rechtsnormen schneiden das nicht Gedeckte, jede nicht präformierte Erfahrung des Spezifischen um bruchloser Systematik willen ab und erheben dann die instrumentale Rationalität zu einer zweiten Wirklichkeit sui generis. […] Dies Gehege, ideologisch an sich selbst, übt durch die Sanktionen des Rechts als gesellschaftlicher Kontrollinstanz, vollenz in der verwalteten Welt, reale Gewalt aus.“16

Aufhebung

Trennung von Öffentlichkeit und Privatem bedeutet, dass es etwas gäbe, dass von der Welt nicht beeinflusst werden könne, vor dem man sich im Privaten zurückziehen könne – dieses Moment ist an der Trennung von Öffentlichkeit und Privatem tatsächlich zu retten. Die Abschaffung von Freiräumen, Rückzugsmöglichkeiten und nicht zuletzt auch Romantik würde unter gegebenen Umständen brutal sein und den Menschen Schmerzen, nicht aber Freiheit bringen. Der Schein aber, im Privaten frei zu sein, muss gleichzeitig aufgehoben werden. Es geht also darum, ebenso wie mit dem abstrakten Recht, Schutzmechanismen aufrecht zu erhalten, solange Menschen unter „Fortschritt“ und „Befreiung“ Gewalt, Ausgrenzung, Diskriminierung und Vernichtung verstehen. Entfesselte Individuen sind gefährlich; entfaltete Individuen dagegen retten die Welt. Nur müssen Menschen erst zur Möglichkeit ihrer Entfaltung vordringen – dies bedeutet Emanzipation. Die Aufhebung von Entfremdung und damit die Realisierung der menschlichen Fähigkeit, die Welt so zu gestalten, dass sie gut ist, wäre ein Erinnern an das Gewordensein der Dinge und des Selbst, also Selbsterkenntnis und Selbsterinnerung, im Verhältnis zu Gesellschaft und Natur. Was unmittelbar erscheint, würde als vermittelt erkannt werden – diese Vermittlung gilt es zu lenken. Der Fehlschluss dagegen wäre, Vermittlung abschaffen zu wollen, um einen reinen, unmittelbaren Zustand herzustellen. Das wäre ein Rückfall. Bewegungen, die zurück zur Natur wollen, vertreten vielleicht gutgemeinte Ideale, realsisieren aber nicht, dass ein gewisser Grad an Vernunft und Organisation, gesellschaftlich gefasst, notwendig ist und ohnehin existiert; ihn zu negieren, bedeutet lediglich davor die Augen zu verschließen. Das Problem ist also nicht technische Entwicklung, Fortschritt an sich; auch nicht, dass Menschen miteinander in Gesellschaft leben; sondern der unreflektierte Umgang damit, die Identifikation mit dem Übel, das der Fortschritt mit sich bringen kann. Versöhnung hieße ein Zustand, in dem Freiheit denkbar ist; dies kann nie ausschließlich die Freiheit des Einzelnen sein und gleichzeitig muss jene die Grundlage sein. Ohne die Unterschiede zwischen den verschiedenen Menschen unter dem Fortschrittsprinzip oder dem Prinzip der Produktivität einzuebnen, muss, wer von Freiheit redet, über ein praktisches Gemeinwesen nachdenken, in dem Vielfalt möglich ist, und zwar vernünftig organisiert, nämlich unter dem Primat der Menschlichkeit. Eine Assoziation von Menschen, in der keine Kanzlergattin zu hause sitzt und sich wünscht, so geduldig zu sein wie ihr Hund, um weniger zu leiden.

Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst.“17

  1. Benjamin, Walter: Passagenwerk. In: Gesammelte Schriften, Bd. 5.2, Frankfurt am Main, 1989, S. 1232. 

  2. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. In: Berlinische Monatsschrift, Berlin, Dezemberheft 1784, S. 481. 

  3. Ebd., S. 482. 

  4. Die Beziehung zwischen Aufklärung und Christentum, zwischen Vernunft, Theorie, Kritik und Christentum ist höchst komplex. So hat sich die Vernunft als Mittel der Weltanschauung erst durch aber auch immer gegen das Christentum so entwickeln können. Ein aktuelles Beispiel für diese Beziehung ist Joseph Ratzinger, der jetzt als Papst Benedikt XVI. durch die Welt geht: Einerseits spricht er bspw. in seiner Papstrede an der Universität Regenburg am 12.09.2006 (siehe link) davon, dass auch die Theologie im Dienste der Vernunft stehe und dass es darum gehe, mit der Vernunft nach Gott zu fragen, andererseits hält er es für vernünftig, 3000 neue Exorzisten ausbilden zu lassen (siehe link), auch wenn hierbei größte Quälereien, Folter bis hin zu Mord geschehen. 

  5. Luther, Dr. Martin: Kapitel Acht: Predigt über die Epistel am anderen Sonntage nach Epiphanias Röm. 12,3. Anno 1546. In: Sämtliche Werke. Sechzehnter Band. Erste Abteilung. Erlangen 1828, Verlag von Carl Heyder, S. 144. 

  6. Bruhn, Joachim: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation. Freiburg 1994, S. 87. 

  7. Dies ist die 1976 um „Rauschgift“ erweiterte Version des §114 des Bundes Gesetzbuchs, die von 1896 bis 1992 gültig war. 

  8. Bei Interesse vertiefen bei Joachim Bruhn: a.a.O., Kapitel zu „Unmensch und Übermensch. Über Rassismus und Antisemitismus.“ Hier leitet er her, wie aus dieser Schizophrenie des Citoyen und Bourgeois, aus der Bedingung der Verwertbarkeit für den Subjektstatus der einen, anderen aufgrund von „Unwertigkeit“ oder „Überwertigkeit“ der Subjektstatus aberkannt wird: Die Gemeinschaft jener, die zur Verrichtung der deutschen Arbeit zugerichtet sind, schließt „Unmensch und Übermensch“ aus:, denn“im Rassismus halluziniert der Bürger seinen Untergang in krude Natur, im Antisemitismus seine Liquidation durch den hypertrophen Geist.“ (Bruhn, Joachim: a.a.O., S. 98.) 

  9. Marx, Karl: Zur Judenfrage. Marx-Engels-Werke, Berlin (DDR) 1976, Band 23, Erstes Buch: Der Produktionsprozess des Kapitals, S. 99f. 

  10. Vgl. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. München 1994, S. 24. 

  11. Marx, Karl: Zur Judenfrage. In: Marx-Engels-Werke, Berlin (DDR) 1976, Band 1, S. 370. 

  12. Adorno, Theodor W. und Max Horkheimer: Le Prix du Progrès. In: Aufzeichnung und Entwürfe-Kapitel In: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.Frankfurt a.M., 2006, S. 286. 

  13. Über entfremdete Bedürfnisse verrät die frühe Kritische Theorie einiges; z.B. Im Kulturindustriekapitel der „Dialektik der Aufklärung“. Kritik an dieser recht simplen Auffassung von Entfremdung reicht Adorno mit der „Negativen Dialektik“ nach. 

  14. Marx, Karl: Zur Judenfrage. In: Marx-Engels-Werke, Berlin (DDR) 1976, Band 1, S. 376f. 

  15. Adorno, Theodor W. und Max Horkheimer: Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung. In: Dialektik der Auklärung. Philosophische Fragmente. Fischer Verlag, S. 72. 

  16. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M., 1984, S. 304. 

  17. Marx, Karl: Zur Judenfrage. In: Marx-Engels-Werke, Berlin (DDR) 1976, Band 1, S. 370. 370. 

Marianne Pabst und Virginia Spuhr leben in Leipzig und haben u.a. Artikel im CEE IEH Newsflyer Leipzig veröffentlicht.

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