Sexismus muss sichtbar gemacht werden
(Selbst-)Kritik des Unsichtbarlassens sexistischer Diskriminierung
Stand der Dinge
Unser Internetprojekt chronik.LE hat sich zur Aufgabe gesetzt, „rassistische, faschistische und diskriminierende Ereignisse in und um Leipzig“ zu dokumentieren. Die ersteren beiden Formen von Ereignissen machen derzeit1 den Großteil unserer Dokumentation aus: Angriffe auf Menschen mit Migrationshintergrund, Hakenkreuz- Schmierereien an Bushaltestellen, Konzerte einschlägiger Neonazi-Bands; hunderte andere Beispiele ließen sich aufzählen. Umso offensichtlicher ist es, dass diskriminierende Ereignisse in der so genannten „Mitte der Gesellschaft“ in der Chronik fast überhaupt nicht auftauchen – und das trotz unseres Anspruchs, gerade auch sie zu dokumentieren. Sucht die_der User_in auf der Internetseite nach dem Tag Sexismus oder Homophobie, wird sie_er momentan genau vier Einträge finden.2 Sexismus – den wir zum einen als Abwertung von Frauen, zum anderen von Transgendern sowie gleichgeschlechtlich Liebenden verstehen3 – ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und wird nicht nur am „rechten Rand“ sichtbar. Auch unsere dokumentierten rassistischen Ereignisse gehen zumeist auf Handlungen von Neonazis zurück, was wiederum zeigt, dass wir den diskriminierenden „Normalzustand“ generell kaum dokumentieren. Das aber widerspricht unserem erklärten Anspruch. Gerade beim Thema Sexismus kommt hinzu, dass er ebenso in der – sich selbst als „emanzipatorisch“ verstehenden – linken Szene auftritt. Man rufe sich Gruppen von kampfsporterfahrenen Männern ins Gedächtnis, die sich auf den Weg machen, Nazis einen Denkzettel zu verpassen, dabei aber nicht auf die Idee kommen, Frauen aus der eigenen Szene mit einzubeziehen. Ein anderes Beispiel ist die männerdominierte Musik- und Kulturszene in linken Clubs: Booker, Techniker und Künstler sind überwiegend Männer.
Die Chronik als Dokumentation der Auswüchse eines „Normalzustands“
Bevor wir die Schwierigkeiten der Dokumentation sexistischer Vorfälle diskutieren wollen, sei eine Grundannahme vorangestellt: Ein „Normalzustand“ lässt sich unserer Meinung nach nicht anhand von Ereignissen erfassen. Ereignisse sind die Abweichung vom „Normalzustand“ – zu dem strukturelle Diskriminierung gehört. Zu kritisieren sind aber gerade die Strukturen, aus welchen die „Ereignisse“ erwachsen. Das aber ist viel eher über umfassende Analysen,4 denn über kurze Ereignismeldungen zu bewerkstelligen. Eine Chronik kann also nur Auswüchse des „Normalzustands“, der strukturellen Verankerung sexistischer Zuschreibungen, dokumentieren.5 Der Zustand selbst ist nicht ereignishaft, denn das „Normale“ entzieht sich der Wahrnehmung.6
Das rechtfertigt jedoch in keiner Weise, dass Sexismus in der Chronik bisher kaum auftaucht, zumal wir nazistische Ereignisse dagegen umso engagierter dokumentieren. Warum? Ein Argument ist zu behaupten, Nazis bedrohten die bürgerliche Gesellschaft, von deren Errungenschaften auch ein emanzipatorisches Projekt profitiert. Zudem vereinen sie alle Formen der Diskriminierung in ihrer Ideologie. Sexist_innen dagegen bedrohen die bürgerliche Gesellschaft nicht, sondern sind Bestandteil derselben.
Die Chronik manifestiert eine unterschiedliche Wertigkeit von Formen der Diskriminierung
Der Anspruch chronik.LEs war von Anfang an, diskriminierende Ereignisse unter anderem anhand des Heitmeyerschen Konzepts der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) zu erfassen. Dazu gehören Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Heterophie und Etabliertenvorrechte.7 Diese Diskriminierungsformen hängen unterschiedlich eng zusammen. Bei Sexismus und Rassismus ist der Zusammenhang laut Kirsten Endrikat aber besonders eng: Beiden Abwertungsformen liegen die gleichen Mechanismen zugrunde. Insbesondere ein „biologistisch eingefärbtes“ Denken, nach dem zwischen Männern und Frauen bzw. zwischen verschiedenen „Rassen“ biologisch begründete Differenzen bestehen. Diese „natürlichen“ Differenzen legitimieren in diesem Verständnis Hierarchien und ungleiche Machtverfestigungen.8 Dass es sich bei diesen biologistisch begründeten Gruppen letztendlich um soziale Konstruktionen handelt, wird verkannt oder verdrängt. Beim Sexismus spielt dabei gleichzeitig die Abwertung von biologischem Geschlecht (Sex) und sozial konstruiertem Geschlecht (Gender) eine Rolle.9 Bei aller Ähnlichkeit scheint offener Rassismus jedoch auf einen breiteren Widerstand von Seiten der Bevölkerung zu stoßen und wird eher geächtet als Sexismus. Ein wesentlicher Unterschied zum Rassismus kann laut Heitmeyer darin gesehen werden, dass Sexismus keine zahlenmäßige Minderheit betrifft, wie es in Deutschland bei der Diskriminierung von Migrant_innen, Obdachlosen oder behinderten Menschen der Fall ist: „Man haßt Frauen nicht, weil sie Frauen sind, so wie man Schwarze haßt, weil sie ‚Neger‘ sind.“10 Die Abwertung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts erfolgt häufig subtiler als die aufgrund ihrer „Rasse“, was wiederum die Dokumentation dieser Diskriminierungen schwieriger macht.
Zwischen Anspruch und Widerspruch
Wie die outside the box-Redaktion in ihrem Text in den Leipziger Zuständen bereits beschrieben hat, wird Sexismus oft als solcher nicht wahrgenommen.11 Das gilt für positiven Sexismus12 noch stärker als für andere Formen. Zudem werden Rollenverteilungen oder „Outings“ in der Familie als auch häusliche körperliche Gewalt oft als etwas Privates identifiziert, das niemanden etwas angeht oder worüber die_der Betroffene nicht wagt zu sprechen. Diskriminierungen sichtbar zu machen, die aus dem eigenen Verwandten-, Bekannten- oder Kolleg_innenkreis kommen, kann ein Anprangern der bestehenden Verhältnisse und ein Aufbrechen des hegemonialen Diskurses bedeuten. Eine weitere Schwierigkeit ist es in dem Zusammenhang, Betroffene zu motivieren, ihre Erlebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Selbstverständlich garantieren wir Anonymisierung, aber durch die Beschreibung des Ereignisses können wir nicht ausschließen, dass sich Beobachter_innen des Vorfalls oder die Täter_innen selbst wiedererkennen. Zumal wir uns mit dem geographischen Schwerpunkt Leipzig und Umgebung einen engen Rahmen gesetzt haben. Es darf nicht vergessen werden, dass es Betroffene oft Überwindung kostet, über sexualisierte Gewalt zu sprechen: Sie müssen die Ereignisse dann ein weiteres Mal rekapitulieren und empfinden sie eventuell nach. Sie stellen sich einer Auseinandersetzung mit der_dem Diskriminierenden bzw. der_dem Täter_in und laufen zudem noch Gefahr, von ihrem eigenen Umfeld abgewiesen zu werden, weil dem Erlebten kein Glaube geschenkt wird.
Womit wir direkt zum Aspekt der Definitionsmacht kommen: Mit ihr wird der_dem Betroffenen zugestanden, sexualisierte Gewalt als diese zu benennen, wenn sie_er diese als solche empfunden hat. Betroffene haben die Definitionsmacht, heißt, ihren Erzählungen bedingungslos Glauben zu schenken und die Betroffenen zu unterstützen. Andererseits haben wir uns dazu bekannt, eingegangene Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Damit folgen wir einem klassisch journalistischen Anspruch, Informationen über verschiedene „zuverlässige Quellen“13 zu verifizieren. Das steht jedoch im Widerspruch zur Anerkennung der Definitionsmacht, die der Stimme EINER Person Glaube schenkt und das Erzählte eben nicht zunächst als Gerücht abtut.
En détail: Zur Dokumentation von Vergewaltigungen
In der Diskussion über die Dokumentation von Sexismus haben wir eine unklare Position zur Dokumentation von Vergewaltigungen. Bisher ist keine Vergewaltigung in der Chronik dokumentiert. Zu aller erst wollen wir festhalten, dass wir den Begriff Sexismus für eine Vergewaltigung zu schwach halten. Sie ist sexualisierte Gewalt, die die Grenze des Körperlichen überschreitet. Sie ist die stärkste Manifestation sexistischen Verhaltens zur (Wieder-)Herstellung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen.14
Die Dokumentation von Vergewaltigungen muss daher sensibel geschehen und darf darüber hinaus nicht sexistischen Alltag verschleiern, sondern sollte immer in Verbindung mit einer Fundamentalkritik an sexistischen Zuständen erfolgen und den_die Täter_in nicht pathologisieren. Über eine angemessene Form der Dokumentation muss deshalb noch weiter diskutiert werden, wofür Anregungen und Positionen von Außen unbedingt erwünscht sind.
Schlussfolgerung
Obwohl es chronik.LE über eine Ereignissammlung nicht leisten kann, strukturellen Sexismus – in seinen Formen der Frauenabwertung, Homophobie oder Heteronormativität – zu analysieren, sollen auf der Internetseite künftig mehr sexistische Diskriminierungen dokumentiert werden. Sexismus taucht bisher fast gar nicht in der Chronik auf (oder wenn, dann als Nebeneffekt einer anderen Diskriminierung), was in keinem Falle daran liegt, dass wir in einer Gesellschaft frei von Sexismus leben. Wir wollen den Text daher auch als Aufruf an unsere User_ innen und (zukünftigen) Projektpartner_innen nutzen, sensibler für Sexismus zu sein und uns entsprechende Diskriminierungsfälle mitzuteilen. Wenn man in seinem Lieblingsclub sexistisch angemacht wird, ist das ein dokumentationswürdiges Ereignis und keine Banalität. Wenn man gefragt wird, ob man Lesbe sei, weil man einen kurzen Haarschnitt hat, dann ist das ein sexistisches Ereignis und nicht „normal“. Sexismus ist Realität: 60 Prozent der Befragten einer repräsentativen Studie aus Deutschland sagen, die Gleichstellung von Mann und Frau sei bereits realisiert.15 Diese Einstellung ist bestenfalls ignorant; die Behauptung der realisierten Gleichstellung ist klar sexistisch und kann über tausende Ereignisse widerlegt werden – würden sie nur als sexistisch wahrgenommen werden.
www.chronikle.org
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Umso erschreckender, wie viele rassistische und faschistische Ereignisse wir jeden Monat zusammentragen. ↩
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Stand vom 07.08.2009. Auf der Internetseite kann der_die User_in nach ‚Ereignissen nach Themen‘ suchen. ↩
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„An dieser Stelle wollen wir uns nicht ausführlicher mit der Definition von Sexismus auseinandersetzen. Dafür verweisen wir auf den Text Sexistische Normalzustände der outside the box-Redaktion, der in unserer Broschüre Leipziger Zustände sowie in der StuRaktiv erschienen ist. (StuRaktiv Nr. 11, April 2009, S. 11, http://www.stura.uni-leipzig.de/stura-cms/fileadmin/stura/referate/roef/ sturaktiv/sturaktiv11-web.pdf, angesehen am 07.08.2009). Die Abwertung von Menschen, die nicht ins gängige Geschlechterkonzept passen, wird in der Wissenschaft häufig auch als Heterosexismus bezeichnet. ↩
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Auf der Seite von Chronik.LE gibt es sogar eine Rubrik „Dossiers“, in der Analysen gesammelt werden sollen. Bisher haben wir aber nur wenige Texte dort veröffentlicht. ↩
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Was wiederum eine gute Voraussetzung für die Analyse der Strukturen sein kann. ↩
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Vgl. Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände, Frankfurt/Main 2003, S. 220. ↩
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Vgl. Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände 1–5, Frankfurt am Main 2002–2007. Zur Begrifflichkeit einiger dieser Kategorien haben wir in den Leipziger Zuständen Position bezogen. Vgl. chronik.LE: Ideologien der Ungleichwertigkeit. …und andere menschenverachtende Einstellungen, in: Leipziger Zustände, Leipzig 2009, S. 6–9. ↩
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Endrikat, Kirsten: Ganz normaler Sexismus. Reizende Einschnürung in ein Rollenkorsett, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 2, Frankfurt am Main 2003, S. 129f. ↩
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Wobei mit Judith Butler auch das vermeintlich „biologische“ Geschlecht (Sex) als Konstruktion entlarvt wurde. Vgl. Butler, Judith. Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991. ↩
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Heitmeyer, Wilhelm: Anknüpfungspunkt: Sexismus – Wen läßt er kalt? in: ders. (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 2, Frankfurt am Main 2003, S. 219. ↩
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Dies ist im Übrigen solch ein strukturelles Problem, ein „Zustand“, der sich anhand von Ereignissen nicht dokumentieren lässt (s.o.). ↩
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Das Geschlecht kann nicht nur minder- sondern auch höher bewertet werden. Dabei begründen sich sexistische Klassifikation sogar häufiger auf „Positiv“bewertungen denn auf negativen Attributen, weil erstere von ihren Träger_innen eher angenommen werden. (Vgl. http://gendertalk.transgender.at/sexismus.htm, angesehen am 07.08.2009). Frauen werden z.B. häufig als schön, emotional und friedfertig beschrieben. Viele Verhaltenskodexe (z.B. bei Knigge) sind zudem sexistisch, weil sie auf einer klassischen Verteilung der Geschlechterrollen basieren. ↩
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chronik.LE (Hg.): Leipziger Zustände, Leipzig 2009, S. 4. ↩
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re.ACTion Readergruppe für emanzipatorische Aktion: Antisexismus_reloaded. Zum Umgang mit sexualisierter Gewalt - ein Handbuch für die antisexistische Praxis, Münster 2007, S. 21. ↩
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Endrikat 2003, S. 125. ↩