Jeanne Bindernagel

Im Rahmen des Programms

Ein Gespräch mit Schauspielerinnen des Centraltheaters Leipzig

Der Kirschgarten

Sie werden den Hof und ihren Garten nicht halten können, soviel steht fest. Und auch ihr Körper scheint jede Haltung verloren zu haben. Sie dreht sich im Kreis, schwingt ihre Arme und Beine wie leere Einkaufstaschen um sich herum, platscht auf den Boden und springt wie getrieben auf, um wieder mit verdrehten Beinen auf der Bühne hinzusinken. Ihr geliebter Kirschgarten wird verkauft werden, sie wird alles verlieren. Doch nicht nur deswegen ist sie in einer auswegslosen Situation. Der Kirschgarten ist ein Bild, eine begehbare Metapher, 1900 geschaffen von Anton Tschechow zur Beschreibung des russischen Adels. Der aufheulende, fallende Körper ist 2009 real, es ist der Körper einer Schauspielerin, die sich auf der Bühne ihre Knie im Dienst einer hundert Jahre alten Geschichte aufschlägt.
Tschechows Kirschgarten erzählt vom Antagonismus von Schönheit und Verwertbarkeit. Der Garten steht in voller Blüte und wirft doch keine Ernte ab, deshalb soll er Platz machen für eine Reihe von Datschen. In Leipzig, der Stadt, in der der Schauspielerin in ihrer Rage das Kleid bis zum Bauchnabel hochrutscht und in der die Dialektik von Wendeverlierern und Aufbau Ost von jeder Ecke der Stadt ins Theater hineinreicht, soll der Kirschgarten seinen Ort finden. Doch dazu muss sie die Geschichte in die Gegenwart holen, muss sie mit ihrem Körper die Brisanz der Idee bebildern. Schmerzhaft soll es in Leipzig zugehen und trotzdem wohl sexy. Wenn eine Frau auf der Bühne des Centraltheaters ins Wanken gerät, ist das noch lange kein Grund, die High Heels auszuziehen. Die Schauspielerin schreit und fällt für ihre Rolle, für den Blick des Zuschauers fällt sie dabei günstig, sodass möglichst ein Blick zwischen die Beine rausspringt. Die Anforderung an den weiblichen Körper ist diese Doppelung. Die Männer besprechen derweil den Diskurs.

Das Centraltheater Leipzig steht seit 2008 unter der Intendanz von Sebastian Hartmann. Es ist nach eigener Aussage dazu angetreten, den bildungsbürgerlich-integrierten, etwas passiven Gestus seines Vorgängers, dem Schauspielhaus, abzulösen und das Theater (wieder) ins Zentrum eines bewegten, kritischen Stadtgeschehens zu holen. Das mediale Echo war riesig. Seitdem ist viel passiert, was in der Stadt zumeist über die Auswertung der Zuschauerzahlen als Indikator für Hartmanns Erfolg „gemessen“ wurde. Weitaus weniger präsent ist die Tatsache, dass zum Ende der aktuellen Spielzeit fünf Schauspielerinnen und ein Schauspieler das Ensemble und damit die im Schauspielerinnenberuf seltenen sicheren Strukturen eines festen Arbeitsvertrags verlassen.
Für uns als Zuschauerinnen ließ sich dieses (übergangene) Ereignis mit den Inszenierungen verbinden. Wir vermuteten einen Zusammenhang zwischen den ewig nackten, hilflos schreienden oder stumm fickenden Frauen auf der Bühne des Centraltheaters und der Situation im Ensemble. Unglücklich mit den Inszenierungen und deswegen solidarisch mit den Aussteigerinnen luden wir Schauspielerinnen und Mitarbeiterinnen des Centraltheaters zu einen Gespräch über die Situation von Frauen am Theater ein. So kamen Treffen und Gespräche zustande, bei denen sich sowohl über allgemeinere Missstände an deutschen Stadttheatern als auch über konkrete Erfahrungen mit einzelnen Produktionen auf der Seite von Zuschauerinnen und Spielerinnen ausgetauscht wurde. Aus der Stimmung geteilter Unzufriedenheit heraus entsteht dieser Text, der kursorisch von gemeinsamen Überlegungen berichten will.

Die Nacht die Lichter

Die Inszenierung des zweiten Erzählbandes des Leipziger Lokalhelden Clemens Meyer hatte ihre Premiere nach diesen Gesprächen, doch erscheint sie wie ein Kommentar, eine Wiederholung und eine fast schon karikative Bestätigung der Kritik.
Die Geschichte ist die der kleinen Leute, deren Träume sich vom Bildungsbürgertum liebevoll auf Postkartengröße zusammenfalten lassen. Sie tragen, in Meyers stets als so authentisch gerühmten Erinnerung ebenso wie auf der Bühne des Centraltheaters, gräuliche Jogginghosen und ihr Herz auf der Zunge, sie betrinken sich und werden sentimental, sie hoffen auf das große Geld oder die nächste Überweisung vom Arbeitsamt. Die erste Frau taucht in dieser betroffenen Leipziger Sozialschau nach über einer Stunde Spielzeit auf. Sie betritt die Bühne im Hintergrund von Hundebesitzern und Boxern, bleibt selbst ganz Schatten und beginnt mit ihrer einzigen Äußerung, dem Strip. Gekonnt und gelangweilt entkleidet sie sich, lobt den Penis ihres Gegenübers und verschwindet wieder. Später taucht sie erneut auf. Nun ist sie das verschüchterte Mädchen, das seit Jahren schweigend denselben Mann anhimmelt und später betrunken in den Armen des Falschen landen wird. Die Inszenierung nähert sich dem Fernsehprogramm an, aus dessen Ästhetik Meyers Figuren wohl ihre Vorlieben entwickelt haben sollen. Doch die spielt nicht mit der Genügsamkeit der Fernsehbilder, die sich mit den immer gleichen Posen sexuellen Begehrens zufrieden geben, sondern versteckt sich mit dokumentarischem Gestus hinter den Figuren, die sie selbst erschaffen hat und die nun Wahrheitsanspruch haben sollen. Das immer schon Gesehene verweist hier weniger auf eine (Kritik der) industrielle Produktionslogik, der weibliche Körperbilder in der Gesellschaft ausgesetzt sind, sondern auf die von Klischees geprägten Bildproduktionen des Centraltheaters selbst, denen man auch bei einem pragmatischen Theaterverständnis Phantasielosigkeit und Verfehlung jeglicher Subversivität vorwerfen kann. Die ewigen Wiederholungen des Drehmoments auf Plastikheels bei gleichzeitigem Sich-Ausziehen werden in der (Lokal-)Presse zwar teilweise als Teil der Entwicklung einer eigenen Handschrift, eines besonderen Stils des Centraltheaters gelobt, doch für die Schauspielerinnen bedeuten sie zunächst endlose Langeweile und Fußschmerzen. Dabei liegt die Determination des Theaters nicht per se in seinen Vorlagen, in den Rollen, die die Stoffe der Literatur den Schauspielerinnen zu bieten haben. Es ist vielmehr der Moment der Überschreitung der Vorlage, die Emanzipation von den scheinbaren Sachzwängen einer Psychologie der Figuren oder der Moral eines Stückes, in denen das Theater brisant und wichtig wird. „Will man Butler reinbekommen, muss erstmal Lessing raus“, antwortet eine Schauspielerin auf unsere Frage nach den gegensätzlichen Positionen, die das Stadttheaterverständnis heute bestimmen und verweist damit auf den Widerstreit körperlicher Aktion zu einem dogmatischen Textverständnis, in dem die Figuren die Körper ein weiteres Mal in (geschichtlichen) Wiederholungszwang bringen. Wenn die spannendste Frage zu Beginn einer neuen Produktion die ist, ob man dieses Mal wohl die Hure, die Heilige oder die Mutter (oder auch wie im Falle dieser Inszenierung alle nacheinander) zu spielen bekommt, verliert das Theater sein Potential, in einem weiten Sinne queer zu sein, Stereotype aufzubrechen und Sinn und Unsinn von Rollenzuschreibungen spielerisch in Frage zu stellen.

Der Prozess

Dass dieses Spiel die Rollen weder auf noch vor der Bühne einfach abschaffen und hinter sich lassen kann, ist eine wichtige Theaterefahrung für die Schaupielerinnen und Zuschauerinnen, die sich aus der Reflexion ihrer (eigenen) Muster heraus nach Entlastung sehnen. Im Spiel können Momente der Freimachung von Geschlechterstereotypen, Zwängen der Gemeinschaft oder geschichtlichen Narrationen auftauchen, jedoch werden sie immer wieder mit der Realität einer Gesellschaft konfrontiert, die dem Spiel seine Texte und seine Sehgewohnheiten beisteuert. Das Tasten, das Versuchen und die Gefahr des Scheiterns prägen die Spiele des Theaters. Schauspiel kann gefährlich sein, wenn es bewusst gegen normative Grenzen angeht und in deren Überschreitung sowohl Orientierungsverlust als auch Blamage vor denen riskiert, die die Grenzgänger aus sicherer Entfernung betrachten. Der Gestus des Centraltheaters referiert diese Annahmen und sucht in seinen Inszenierungen bewusst den Bruch mit Gesellschafts- und Theaterkonventionen. Die Gefährlichkeit des Theaters steht, von Sebastian Hartmann immer wieder ausformuliert, als Forderung im Raum. Doch wer muss sich für sie aufs Spiel setzen? Die Unzufriedenheit der Schauspielerinnen aus Hartmanns Ensemble rührt nicht aus der Extremität dessen, was Überschreitungssituationen ihnen abverlangen könnten. Sie haben diesen Beruf auch aus einer Freude am Wagnis ergriffen, keine von ihnen will im beigen Hosenanzug im Büro sitzen. Was der Spielfreude jedoch im Weg steht, sind die hierarchischen Strukturen des Stadttheaters, das, ähnlich dem Bürobetrieb in jedem Unternehmen, die Entscheidungen innerhalb des Arbeitsprozesses bei einer Person (dem Regisseur und eventuell seinem Dramaturgen) belässt. Rollen werden zugeteilt und damit die Körper mit weiteren Klischees beladen. Die Wichtigkeit des zu bearbeitenden Stoffes, dem sich die Schauspielerinnen mit aller körperlicher Kraft verschreiben sollen, wird nicht unter den Beteiligten verhandelt, sondern ihnen aus der Chefetage mitgeteilt. Dass es auch und besonders dem Leipziger Centraltheater nicht gelingt, diese Mechanismen der Arbeitsweise zu entschärfen, zeigt sich in seiner Ästhetik. Phasen der der medial viel gelobten Improvisation auf der Bühne, wie etwa in Hartmanns Inszenierung von Kafkas Der Prozess, bringen die gleiche kreischige Nacktheit und den Devotismus hervor, die die Zuschauerinnen auch in den anderen Inszenierungen zu sehen bekommen. Für das Ausprobieren des eigenen Körpers auf der Bühne bleibt, so die Erfahrung unserer Gesprächspartnerinnen, kein Raum und keine Zeit, weil es feste Annahmen darüber gibt, was die Provokationsmaschine Theater am Laufen hielte. Die Schauspierinnen wissen, was sich ihr Chef unter einer gelungenen Improvisation vorstellt und dass am Centraltheater Zögern als Verklemmtheit bewertet wird. Der „neue Performer“, den sich Hartmann laut Interviews für sein Theater wünscht, hat die zweifelhafte Selbstbestimmtheit eines Athleten, der sich mit Attributen von schneller, lauter, geiler im ständigen Wettstreit mit seinen Mitspielern befindet. Der aufrüttelnde Gestus des Regisseurs bleibt zahm, ästhetisch immer von den gleichen Zuschreibungen an die Körper bestimmt, weil er nicht in der Gemeinschaft mit den Spielerinnen ausgeführt ist. Das Risiko ist nicht das eines Versuchs, der immer auch scheitern kann, sondern verbleibt auf der Seite der Frau, die sich wider aller persönlichen Bedenken öffentlich für die gute Sache zu entkleiden hat, deren Körper der Idee eines anderen Rechnung tragen soll.

Mädchen in Uniform

Wer sich diesem Prozess auf und hinter der Bühne entzieht, wird am Centraltheater mit Textentzug bestraft oder in die Nebenrollen auf den kleinen Bühnen verdrängt. Doch auch hier könnte sich wunderbares Theater abspielen. Mädchen in Uniform, eine Inszenierung nach der Filmvorlage über ein Mädchen, das sich in ihre Internatslehrerin verliebt, hätte eine solche Chance geboten. Das Internat, seit Hanni und Nanni oder Foucault als soziales Laboratorium verstanden, ist auf der Bühne der Skala ein Raum der Frauen. Das Stück thematisiert weibliches Begehren, abweichende Bedürfnisse und deren gesellschaftliche Restriktionen. In der Inszenierung wird daraus ein halbherziges Gefingere an Handpuppen, das sich nicht traut, zwischen Fremdheit und Nähe des verhandelten Gegenstands Stellung zu beziehen. Die Idee, Berührungsängste mit dem Thema Homosexualität im Spiel mit Puppen auszuagieren, zu wagen oder zum Scheitern zu bringen, vergeben ihre Chance im Angesicht der grotesken weiblichen Niedlichkeit, mit der die unbelebten Figuren alle heiklen Passagen der Inszenierung übernehmen. Kommunikation über diese unglücklich gelaufene Inszenierung gab es laut unserer Gesprächspartnerinnen kaum, weder mit der Regisseurin, noch unter den Akteurinnen. Dafür wurde bei den Proben umso mehr darüber geredet, wer in seinem Kostüm an welcher Stelle zu dick wäre. Der Vorwurf an eine Spielerin von Seiten der Regie, die Männer im Publikum müssten sich ihren Bauch erst „wegdenken“, zeugt von der fatalen (Selbst-)Begrenzung, der das Konzept von Begehren auch im vermeindlichen Freiraum des Theaters unterliegt. Nicht in der Kritik an der ewigen Nacktheit auf den Bühnen des Centraltheaters liegt die Prüderie, sondern in der dieser Präsentation zu Grunde liegenden Vorstellung des weiblichen Körpers als Objekt, das seine Rolle nicht in der eigenen Artikulation, sondern der Gefälligkeit findet. Die Geste der Schauspielerin, ihren eigenen Körper mal in aller Konsequenz zeigen oder mal intuitiv verdecken zu wollen, tritt in einer solchen Vorstellung völlig hinter den Ansprüchen des Blicks von außen zurück, der als ein ständig normativ bewertender antizipiert wird. Auf der Bühne der Skala stellt sich die Uniform der Mädchen als eine Angst dar, im Schauspiel von der Erwartungshaltung der Zuschauer und des Ensembles abzurücken. Die Lust am Schauspiel als ein wechselseitiges Verhältnis von Blicken und Agieren zu begreifen, in dem Souveränitäten ständig ausgehandelt werden müssen und Verschiebungen von Körperbildern möglich sind, ist ein Potential selbstbewusster Theaterkultur.

Einige unserer Gesprächspartnerinnen haben das Centraltheater mittlerweile für andere Häuser verlassen. Andere bleiben und ich treffe sie nach Theaterbesuchen in der Kneipe beim Bier. Es gibt ein großes Einverständnis über die Schwierigkeit des Gesehenen und Gespielten, eine gemeinsame Müdigkeit an diesen Abenden und das Wissen um eine geteilte Euphorie der Theaterwünsche. Danke für das Gespräch.

Der Artikel basiert auf Gesprächen mit Schauspielerinnen und einer künstlerischen Mitarbeiterin am Centraltheater, die von den Outside-Redakteuerinnen Veronika Lechner, Vereen S. und Jeanne Bindernagel im April 2010 geführt wurden. An den Gesprächen beteiligten sich sowohl einzelne gehende als auch bleibende Spielerinnen, über deren Identität die im Text getroffene Stückauswahl keine Auskunft gibt. Der Text hat selbstverständlich nicht den Anspruch, eine homogene Stimmung im Ensemble des Centraltheaters abzubilden.

Die Autorin Jeanne Bindernagel lebt in Leipzig, ist Mitglied der Redaktion von outside the box und promoviert zu einem theaterwissenschaftlichen Beitrag zur Hysterieforschung.

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