Lisa Gathmann

„Je me vois donc je suis“

Eine kleine Einführung in das Leben und Werk Claude Cahuns

„L’exception confirme la règle – et l’infirme également.
J’ai la manie de l’exception. Je la vois plus grande que nature. Je ne vois qu’elle. La règle ne m’interesse qu’en fonction de ses déchets dont je fais ma pâture. Ainsi je me déclasse exprès. Tant pis pour moi.“1

Wir sehen eine Fotografie einer Person. Sie steht vor einem an die Wand gehefteten Tuch –ein improvisierter Rahmen, der ihren Oberkörper umgibt. Die Person ist kahl rasiert, trägt einen schwarzen Anzug, einen weißen Schal, ein weißes Einstecktuch. Die eine Hand lässig auf die Hüfte gestützt, Zigarette zwischen den Fingern, die andere hängt zur lockeren Faust gebildet herab. Die Person blickt direkt in die Kamera, blickt uns an. Skeptisch und doch selbstbewusst. Wer ist sie? Für einen Moment stutzen wir und sind unsicher, welchen Geschlechts sie ist. Mann? Frau? Nehmen wir die Bildunterschrift zur Hilfe, sehen wir, dass es sich um ein Selbstportrait von Claude Cahun handelt (Abb. 1). Der französische Name Claude ist für beide Geschlechter zulässig, meistens sind seine Träger Männer. Diese Überlegung würde uns in die Irre führen, wenn nicht ein paar aufmerksame Menschen in den letzten etwa zwanzig Jahren diese Fotografin und Schriftstellerin aus der Vergessenheit hervorgeholt hätten.

Claude Cahun wird am 25. Oktober 1894 in Nantes als Lucy Renée Mathilde Schwob in eine gutbürgerliche Familie geboren. Ihr Vater ist Herausgeber einer führenden Tageszeitung, sie wächst in sicheren finanziellen Verhältnissen auf. Ihre Mutter ist psychisch krank und wird wiederholt in verschiedene Kliniken eingewiesen, weswegen Lucy und ihr Bruder viel Zeit bei Verwandten verbringen. Die Großmutter väterlicherseits nimmt infolgedessen eine dominante Rolle im Leben Lucys ein und trägt umfassend zu ihrer Bildung bei. 1907 sieht sie sich im Zuge der Wiederaufnahme des Dreyfus-Prozesses in der Schule antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, weswegen der Vater es vorzieht, sie für eine Weile in ein englisches Internat zu schicken. Zurück in Nantes bleibt die junge Lucy überwiegend auf sich allein gestellt und verbringt viel Zeit in der Verlagsbibliothek, die sich im gleichen Haus mit dem Verlag und den Privaträumen der Familie befindet. Derart zurückgezogen beginnt sie, Äther zu schnüffeln, und verfolgt insgeheim dubiose Diäten eines Astrologen, woraufhin sich ihr Gesundheitszustand allgemein stark verschlechtert. Zeitweise hegt sie Suizidgedanken – ihr Lebenswandel gleicht einem Selbstmord auf Raten. Der Vater bekommt Angst, es könne Lucy wie ihrer Mutter ergehen, und überlegt bereits, sie in eine Klinik zu überweisen, als er von einem befreundeten Arzt den Rat bekommt, seine Tochter in die Obhut von dessen Tochter zu geben. Suzanne Malherbe ist zwei Jahre älter als Lucy Schwob, sie kennen sich bereits aus Kindertagen. Ab etwa 1913 entwickelt sich aus der großen Vertrautheit zwischen den beiden jungen Frauen eine Liebesbeziehung, die ihr Leben lang Bestand haben wird. Ironischerweise wird Lucys inzwischen geschiedener Vater nach dem Tod des Arztes dessen Witwe heiraten, sodass aus den Freundinnen zugleich Schwestern werden.
In der Mitte der 1910er Jahre bestärkt Lucys Vater sie in ihrem Bedürfnis zu schreiben und bietet ihr und Suzanne an, in seiner Zeitung eine kleine Modekolumne zu gestalten, zu der Suzanne die Zeichnungen beisteuert. Mit der Beziehung zu Suzanne und der Möglichkeit zu schreiben gewinnt sie die Lust am Leben zurück und ihr Zustand verbessert sich deutlich. Dass Lucy Schwob, die zu dieser Zeit unter wechselnden Pseudonymen schreibt, bereits in relativ jungen Jahren in renommierten Zeitschriften veröffentlichen kann, verdankt sie nicht zuletzt den weitreichenden Beziehungen ihres Vaters und dem Ansehen ihres Onkels Marcel Schwob, seinerzeit ein bekannter Schriftsteller. Das ermöglicht ihr 1914, Vues et visions, eine Serie von Gedichten in Prosa, im Mercure de France zu publizieren, versehen mit Illustrationen von Suzanne Malherbe. Zeitgleich mit der Ausdehnung ihrer schriftstellerischen Tätigkeit beginnen auch die fotografischen Experimente Lucys. Eine auf 1915 datierte Fotografie (Abb. 2) zeigt sie an einem Tisch mit riesigen Büchern sitzend, eines davon trägt den Titel L’image de la femme2 – sie ist die eifrige Studentin dieses Werkes. Auf dem Tisch liegt neben den Büchern die Tasche einer Kamera, was uns auf das Werkzeug ihres Studiums hinweist. Die Ironie liegt in der Ernsthaftigkeit, mit der die junge Frau ihre Studien zu betreiben scheint. Ganz weiblich trägt sie hier die Haare noch lang, etwa ein Jahr später entstehen dann die ersten Bilder mit kurzgeschorener Frisur. 1917 entscheidet Lucy Schwob sich endgültig dafür, mit Claude Cahun zu signieren – der Vorname gefällt ihr gerade aufgrund der geschlechtlichen Uneindeutigkeit, der Nachname ist der Familienname ihrer Großmutter. Auch Suzanne veröffentlicht ihre Zeichnungen unter einem Pseudonym – sie signiert mit Marcel Moore.
Von 1920 an leben Claude Cahun und Suzanne Malherbe gemeinsam in Paris. Ihre wohlhabene Familie gibt ihnen lebenslang finanziellen Rückhalt. Claude schreibt sich für einige Zeit für ein geisteswissenschaftliches Studium an der Sorbonne ein und sie genießen das Leben einer Stadt, in der nach den vorübergezogenen Schrecken des Ersten Weltkriegs intellektuell und künstlerisch vieles in Bewegung ist. Hier wagt sie es und rasiert sie sich den Schädel ganz kahl – eine Geste gegen die leiblichen Bedingungen der Natur, die sie noch mehrfach wiederholen wird. Wenn sie sich die Haare gerade nicht ganz abrasiert, färbt sie sie in den unterschiedlichsten Farben. Claude Cahun versucht, ihren Körper nach eigenen Vorstellungen zu verändern und zu gestalten, dazu gehört häufig auch extravagante Kleidung. Einen Eindruck aus dieser Zeit vermittelt das Selbstportrait von 1920, das wir eingangs betrachtet haben. In diesem Bild wird die Ambivalenz ihrer Person sichtbar – es ist nicht mehr das Bild der Frau, welches hier untersucht wird, sondern das Bild ihrer eigenen Person.
In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre widmet sich Claude Cahun mehr dem Schreiben als der Fotografie. Aus dieser Zeit stammen auch die Héroïnes3, eine Serie von Texten, die ihrerzeit zum größten Teil in verschiedenen Zeitschriften erscheinen. Mit den Héroïnes begibt sich Claude Cahun auf die Spuren verschiedener Frauenfiguren, die überwiegend aus biblischer Tradition, griechischer Mythologie und Belletristik bekannt sind. Schwer in eine literarische Gattung einzuordnen, lässt es sich bei den meisten dieser Texte von Monologen sprechen, in denen die jeweilige Protagonistin ihre Version der Ereignisse wiedergibt. So wird aus der biblischen Judith eine Sadistin, aus der Beziehung von Fausts Gretchen zu ihrem Bruder eine inzestuöse und aus der Jungfrau Maria eine gewöhnliche Mutter mit allen dazugehörigen Sorgen und Nöten. Claude Cahun gehört zu den regelmäßigen Besuchern der Buchhandlung Aux amis de livres von Adrienne Monnier, einem gängigen Treffpunkt avantgardistischer Schriftsteller. Dort macht sie die Bekanntschaft von Philippe Soupault, der sie in den Kreis um André Breton zur Mitarbeit an Littérature, der Vorläuferzeitschrift der surrealistischen Bewegung, einlädt. Das lehnt sie mangels Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu diesem Zeitpunkt ab, und so wird es noch bis 1932 dauern, bis sie sich den Surrealisten anschließt.
In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre widmet sich Claude Cahun mit Enthusiasmus der Mitarbeit an mehreren Theaterproduktionen unter anderem von Pierre Albert-Birot, in denen sie als Schauspielerin auftritt und deren Inszenierungen sie begeistert mitgestaltet. In diesen Jahren entwickeln sich neue Ideen zur Kreation und Aufführungspraxis von Theater – die Grenze zum Publikum wird durchlässig, die Veranstaltung zielt auf das Erleben und die Erfahrung des Zuschauers ab. Aus dieser Zeit sind uns einige Selbstportraits von Claude Cahun erhalten, viele direkt in den Kostümen der Bühne, andere eindeutig vom Theater inspiriert. Dazu gehört auch das Bild, auf dem sie mit einer gebastelten Hantel auf dem Schoß und einem T-Shirt mit der Aufschrift „I am in training, don’t kiss me“ zu sehen ist (Abb. 3). Das Gesicht ist stark geschminkt, auf den Wangen trägt sie kleine Herzchen. Auf dem T-Shirt sind künstliche Brustwarzen angebracht, sie hält die Beine damenhaft überschlagen und den Oberkörper übermäßig steif. Die Ernsthaftigkeit der Haltung und der starre Blick geben dem Bild etwas Clowneskes und bieten so eine Persiflage auf den „starken Mann“. Das ab dieser Zeit verstärkte theatralische Moment in vielen Selbstportraits Claude Cahuns erscheint – unter dem Begriff der Maskerade – in der Rezeption oft als das Hauptmerkmal ihres Werkes. Tatsächlich sehe ich noch einen Unterschied zwischen den explizit theatralischen Bildern, den ironischen Szenen und den Fotografien, auf denen anzunehmen ist, dass sie sich so zeigt, wie sie sich ihrerzeit auch im Alltag bewegt hat.
Ende der zwanziger Jahre manifestiert sich das Vorhaben, ein autobiographisch geprägtes Buch herauszubringen, in das Texte aus mehreren Jahren Eingang finden. Aveux non avenus4 erscheint 1930. Es ist wie bei den Héroïnes schwer, dieses Buch in eine Gattung einzuordnen – die sieben Abschnitte enthalten Aphorismen und kurze Texte, in denen Claude Cahun ihr Denken zwischen Imagination und Selbstbetrachtungen entfaltet. Jeder Abschnitt wird von einer eigens für die Publikation angefertigten Fotomontage eingeleitet – Resultate der Zusammenarbeit von Claude Cahun und Suzanne Malherbe, in die mehrere Selbstportraits eingearbeitet sind (Abb. 4). Aveux non avenus zeigt eine Auseinandersetzung mit Fragen der Sexualität, möglichen und unmöglichen Beziehungen und Problemen der Repräsentation des Individuums in Bild und Text. Claude Cahun entwickelt hier jedoch keine Theorien über die von ihr behandelten Themen, sondern fügt Versatzstücke aus Erlebtem und Imaginiertem so zusammen, dass ihre Haltung zu den Dingen dazwischen aufscheint. Die Texte sind zweifelnd, aber auch ironisch und voller Zynismen. Dass ihr Werk auch im fotografischen Bereich von diesen Elementen durchzogen ist, lässt sich an einem Selbstportrait von 1932 betrachten, wo sie in einem Fach eines monströsen Schranks liegt (Abb. 5). Auf diesem Bild trägt sie eine Schleife im Haar und die Kleidung eines jungen Mädchens – eine offensichtlich einengende Rolle, angesichts des überwältigenen Möbelstücks, in dessen „Schublade“ sie steckt.
Der ausgeprägte Individualismus und auch Egoismus, wie er in Aveux non avenus zu Tage tritt, ist bei Claude Cahun der Ausgangspunkt ihres Anfang der dreißiger Jahre erstarkenden Interesses, sich an sozialrevolutionären Diskussionen zu beteiligen. 1932 kommt es zu einer ersten freundschaftlichen Begegnung mit André Breton, beide beteiligen sich an der kommunistischen Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires.5 In diesem Kontext positioniert sie sich zum ersten Mal an der Seite der Surrealisten, besonders deutlich bei deren Spaltung von der A.É.A.R., als die Gruppe um André Breton sich von den „Stalinisten“ der kommunistischen Partei distanziert. Claude Cahun hat nicht viel für eine Poesie im Dienste der kommunistischen Propaganda übrig, die die Agitation der Massen zum Ziel hat, da sie deren Wirkmächtigkeit in Zweifel zieht. Sie vertritt mit Nachdruck eine Position, die die Möglichkeiten der Poesie vorrangig in der Erfahrung des Individuums sieht und sich so auf das einzelne Bewusstsein auswirken soll. 1934 veröffentlicht sie Les Paris sont ouverts6, eine polemische Schrift, in der sie diese Haltung ausführt und begründet. Mit dieser Publikation steht Claude Cahun eindeutig im Kontext der Surrealisten. Den Anschluss an die Bewegung findet sie so relativ spät, wenn wir bedenken, dass einzelne Surrealisten über Jahre hinweg auch in ihrem nächsten Umfeld präsent gewesen sind, zum Beispiel in der Person von Robert Desnos, der in diesem Moment allerdings schon lange mit der Gruppe um Breton zerstritten ist.
Aktuell spielt der Surrealismus vor allem im Bezug auf bestimmte Stilmerkmale in der Kunst eine Rolle. In seinen Anfängen ist er in erster Linie eine Lebenshaltung, unter der sich 1924 eine Handvoll Menschen zu einer Gruppierung zusammenfinden. Es treffen Intellektuelle aufeinander, die schreiben, mit Literatur jedoch nichts zu tun haben wollen, und Künstler, die jede Form von Akademismus ablehnen. André Breton schreibt das Manifest des Surrealismus, worin er seine Vorstellung von der Freiheit des Geistes und der Poesie und somit seiner Idee der écriture automatique ausführt, deren Methode er als Surrealismus bezeichnet. In der Technik ist die Demontierung des Künstlers als eines Spezialisten für das Schöne enthalten – denn Surrealismus lässt sich von jedem produzieren. Die Provokation, die mir das Kernelement surrealistischen Schaffens zu sein scheint, besteht in der Form und findet ihren Niederschlag in inhaltlichen Boshaftigkeiten. Im Rahmen der Bewegung entstehen Gedichte und Romane – soweit sich die Gattungsbegriffe hier anwenden lassen – und von Anfang an auch Malerei, Fotografien und Objekte. Proklamiert werden die unbedingte Freiheit des Individuums und die Ablehnung von Gott, Staat und Vaterland. Die Surrealisten weigern sich, an der Gesellschaft teilzuhaben, und einige der berüchtigten Ausschlüsse aus der Gruppe basieren nicht zuletzt auf den Vorwurf der Anbiederung an die bürgerliche Presse. Der Surrealismus soll in seiner Konsequenz eine Entscheidung gegen die Literatur und gegen den Journalismus sein. Im Zweiten Manifest des Surrealismus (1929) rechnet Breton mit einigen der Ausgeschlossenen noch einmal persönlich ab und formuliert seine Idee von Surrealismus diesmal mit einem Schwerpunkt auf der Haltung zur bürgerlichen Gesellschaft und nun auch der Frage einer anzustrebenden sozialen Revolution. Die soziale Revolution ist seit der 1925 beginnenden Zusammenarbeit der Surrealisten mit kommunistischen Gruppierungen, die auf der gemeinsamen Ablehnung des französischen Krieges in Marokko gründet, Bestandteil surrealistischer Forderungen. Manche von ihnen treten der Kommunistischen Partei bei, Louis Aragon geht Anfang der dreißiger Jahre so weit, seinen Stil komplett umzuwerfen und an die Anforderungen der parteikommunistischen Vorstellungen von Literatur anzupassen, um sich im gleichen Atemzug vom Surrealismus zu lösen, den er ein Jahr zuvor noch vehement gegen jegliche Literatur verteidigt hat. Die innerhalb weniger Jahre stark divergierenden Aussagen Aragons zu den Erwartungen an die schriftstellerische Tätigkeit bilden den Punkt, an dem die Kritik, die Claude Cahun in Les Paris sont ouverts entfaltet, angreift. Strittig ist vor allem die Frage, zu wessen Stellvertreter ein Schriftsteller sich macht, sich machen kann. Eine 1933 von der kommunistischen Zeitschrift Commune veröffentlichte Umfrage: Pour qui ecrivez-vous?7 wird von Claude Cahun in ihrem Beitrag in Contre qui ecrivez-vous? umgewandelt. Sie betont, dass sie zuallererst gegen diejenigen schreibe, die lesen können – das Bürgertum, einschließlich ihrer selbst. Sie sagt, sie könne nicht die Stimme der Proletarier sein, da sie deren Erfahrungen nicht kenne. Somit lehnt Claude Cahun den Ansatz bürgerlicher Intellektueller ab, sich zu Stellvertretern des Proletariats zu ernennen und sich so, wie sie sagt, zu Parasiten der Revolution zu machen. Als angesichts des erstarkenden Faschismus in Europa 1935 von André Gide und anderen Schriftstellern in der Kommunistischen Partei zum Congrès international des écrivains pour la défense de la culture8 aufgerufen wird, sind nur noch wenige der Surrealisten in der Partei. Einige sind hinausgeworfen worden, andere sind unentschlossen, manche, wie Aragon, sind „konvertiert“. Unter dem Vorzeichen des Französisch-Sowjetischen Beistandspaktes scheinen die Möglichkeiten der hier zu diskutierenden kommunistischen Position von vornherein massiv eingeschränkt – an Kritik am sowjetischen Regime ist den stalinistischen Veranstaltern wenig gelegen, und die Ablehnung der französischen Regierung wird unter diesen Bedingungen stark zurückgenommen. Die Surrealisten werfen die Frage auf, welche Kultur nach Ansicht der Veranstalter zu verteidigen wäre, und beantworten sie, dass es sich hierbei nur um die verachtete bürgerliche handeln könne. Der moskautreue Tenor der Veranstaltung und die Ignoranz gegenüber der surrealistischen Kritik daran führen zum Eklat und endgültigen Bruch der surrealistischen Bewegung mit der Kommunistischen Partei.

Claude Cahun lehnt den Ansatz bürgerlicher Intellektueller ab, sich zu Stellvertretern des Proletariats zu ernennen und sich so, wie sie sagt, zu Parasiten der Revolution zu machen.

Der Impuls zur nachfolgenden Gründung der Gruppe Contre-Attaque9 geht von Georges Bataille aus. Die SurrealistInnen, allen voran André Breton, beteiligen sich maßgeblich daran, obwohl Bataille wenige Jahre zuvor noch zu ihren erklärten Feinden gehörte. Ihre Positionen lassen sich zwar nicht grundsätzlich vereinen, jedoch eine Zusammenarbeit als möglich und notwendig erscheinen, da sie alle ein revolutionäres Engagement jenseits der Doktrinen der Kommunistischen Partei suchen. Auch Claude Cahun und Suzanne Malherbe sind von Anfang an mit dabei und tauchen als Unterzeichnerinnen mehrerer Flugblätter auf. Im März 1936 verlassen die beiden Frauen Contre-Attaque gemeinsam mit den anderen Surrealisten, wobei sie in einer öffentlichen Erklärung gegen die verbliebenen den Vorwurf faschistischer Tendenzen erheben.
In den Jahren der zunehmenden Politisierung Claude Cahuns intensiviert sich auch ihr Interesse an der Herstellung von kleinen Objekten aus gefundenen Materialien und deren fotografischer Inszenierung. 1936 kommt es zu einer umfangreicheren Veröffentlichung solcher Fotografien, als sie von Lise Deharme, die ebenfalls entfernt zum Kreis der SurrealistInnen gehört, darum gebeten wird, den Gedichtband Le Coeur du Pic zu illustrieren (Abb. 6). Die Bilder, die in diesem Zusammenhang entstehen, sind die einzigen, die explizit für eine Veröffentlichung angefertigt werden. Auffällig ist, dass sich die Aufmerksamkeit, mit der Claude Cahun seit ihrer Wiederentdeckung bedacht wird, kaum auf die Objektfotografien richtet, und auch ihr schriftstellerisches Werk nur nach und nach und auch nur bei manchen RezipientInnen in den Fokus rückt. Hingegen erzeugen ihre Selbstinszenierungen große Resonanz und werden von vielen als Hauptmerkmal ihrer Arbeit betrachtet. Cahun sieht sich jedoch primär als Schriftstellerin, und deshalb sind die Selbstinszenierungen meiner Ansicht nach eher als private Fotografien zu betrachten. Diese Privatheit spricht, anders als bei aktuellen Positionen in der Kunst, die mit Selbstportraits arbeiten, für einen Fokus auf den Aspekt der Selbstuntersuchung und Selbstvergewisserung im Gegensatz zu einer Inszenierung, die die öffentliche Rezeption bereits vorsieht und mit einbezieht. Tatsächlich gibt es große Unterschiede zwischen den Bildern: Die Hanteln sind eine Persiflage, das Mädchen im Schrankfach ist ein böser Witz. Bei dem schlichten Portrait von 1920 aber sehen wir mehr von der Person Claude Cahun, die die Kamera als registrierenden Spiegel benutzt, um sich selbst zu betrachten und zu bestätigen. Der Selbstzweifel und das Selbstbewusstsein liegen in vielen ihrer Bildern in Blick und Haltung nebeneinander, der zynische Umgang mit dem zweifelnden Blick auf das Selbstbild gibt ihr ein Stück Selbstbewusstein – „je me vois donc je suis“. Sie imaginiert sich nicht als jemand anderes, sondern hält ein bestimmtes Bild ihrer Person fest, um sich visuell bestätigt zu sehen. Im Gegenteil zur Literatur lässt die Fotografie der portraitierten Person ein Stückweit ihre Körperlichkeit, denn sie ist so, wie wir sie sehen, im Moment der Aufnahme vor Ort gewesen. So kann ein flüchtiger Eindruck Beständigkeit gewinnen, wie im Fall von Claude Cahun beispielsweise die Androgynität, die sie sowohl in den Héroïnes als auch in Aveux non avenus verschiedentlich heraufbeschwört. Dort befindet sich diese im Bereich der Imagination, in den Fotografien jedoch findet die Idee eine visuelle Entsprechung und bekommt ein Stück Realität.
Claude Cahun und Suzanne Malherbe kaufen 1937 ein kleines Anwesen auf der Kanalinsel Jersey und verlegen ihren Lebensmittelpunkt an einen Ort, an dem sie sich bereits über viele Jahre hinweg immer wieder auch länger aufgehalten haben. Eine nahe Bindung an die SurrealistInnen behalten sie nicht zuletzt durch die freundschaftliche Beziehung zu André Breton und Jacqueline Lamba die, seit 1934 liiert, regelmäßige Gäste von Claude Cahun und Suzanne Malherbe sind. Von dieser Freundschaft zeugt ein sorgfältig inszeniertes Portrait der beiden von 1935 (Abb. 7), wo sie durch Spiegel und Montage multipliziert werden. André Breton reist 1938 nach Mexiko, wo er den im Exil lebenden Trotzki trifft und mit ihm das Manifest Pour un art révolutionnaire indépendant10 verfasst, in welchem sie die Unabhängigkeit des Künstlers von jeglichem staatlichen oder parteidoktrinären Einfluss einfordern. Auf dieser Basis wird eine neue Gruppierung geplant, der sich auch Claude Cahun anschließt, die jedoch über das Gründungsstadium nicht wirklich hinauskommt. Die Situation für unabhängige Künstler wird immer enger in dieser von einer zunehmenden Nationalisierung geprägten Zeit. Unterbrochen werden die Versuche der Organisierung vom Einmarsch der Deutschen und der damit einhergehenden Flucht und Zerstreuung der revolutionären Intellektuellen.
Es ist ihr Glück, dass Claude Cahun unter der deutschen Besatzung der Insel nicht als Jüdin identifiziert und verfolgt wird. Da sie sich selber als solche dort nie amtlich gemeldet hat, entgeht sie den Deutschen, die ihre barbarische „Endlösung“ auf der Insel nicht mit aller Konsequenz durchsetzen. Aus ihrer politischen Haltung heraus ist es Claude Cahun und Suzanne Malherbe von Beginn der Besatzung an selbstverständlich, Widerstand zu leisten. Ihre Aktivität besteht in erster Linie darin, Flugblätter zu produzieren und diese an Orten öffentlichen Lebens zu hinterlassen. Sie arbeiten mit Zeichnungen, Fotocollagen und kurzen Texten und Sprüchen, häufig auf Deutsch (Abb. 8). Sie wenden sich darin überwiegend direkt an Angehörige der Wehrmacht mit der Hoffnung, Einzelne zur Desertion zu bewegen. Dabei formulieren sie selten direkte Aufrufe, sondern arbeiten mit Mitteln, die auf die eigene Assoziation des jeweiligen Betrachters und Lesers abzielen, also Methoden, die den Widerspruch der Verhältnisse im Individuum an die Oberfläche kehren wollen. Sie entwickeln so eine surrealistische Gegenpropaganda zum deutschen Glauben an die Unbesiegbarkeit des selbsternannten Tausendjährigen Reichs. Einmal bringen sie ein Transparent mit der Aufschrift „Jesus ist groß, doch Hitler ist größer – denn Jesus starb für die Menschen und die Menschen sterben für Hitler“ in einer Kirche an, ein anderes Mal stellen sie Holzkreuze auf, wie sie für Kriegsgräber benutzt werden, und auf denen „Für sie ist der Krieg zu Ende“ steht. Außerdem bringen sie Informationen über den Verlauf des Krieges, den sie auf einem versteckten Radio BBC hörend verfolgen, aufs Papier und an die Öffentlichkeit. Sie entwickeln die Figur vom „Soldat ohne Namen“ als Unterzeichner defätistischer Botschaften, die ebenfalls auf Deutsch verfasst sind. Die Aktionen Claude Cahuns und Suzanne Malherbes in der Résistance sind ein Beispiel dafür, wie der Anspruch der SurrealistInnen, den Surrealismus zu leben, sich in der konkreten historischen Situation umsetzen lässt. Obwohl sie sehr aktiv sind, kommt zunächst niemand auf die Idee, Claude und Suzanne zu verdächtigen, da sie als respektable Damen um die fünfzig nicht in das Bild passen, das sich die Kommandantur von den Tätern macht.
Entgegen aller Vermutungen bleiben die Kanalinseln selbst nach der Landung der Alliierten in der Normandie noch unter deutscher Besatzung, und es kommt im Juli 1944 doch zur Verhaftung der beiden Frauen. Ein Versuch, sich noch auf dem Transport zum Gefängnis zu vergiften, scheitert. Obwohl es den Richtern schwer fällt zu glauben, dass sie nicht für jemand anderes gearbeitet, sondern völlig selbstverantwortlich gehandelt haben, werden sie nach etwa vier Monaten zum Tode verurteilt. Das Urteil wird jedoch nicht vollstreckt. Im Februar 1945 werden Claude Cahun und Suzanne Malherbe begnadigt, da die notwendige Bestätigung der Todesurteile aus Berlin aufgrund des Kriegsverlaufs zu diesem Zeitpunkt nicht mehr eingeholt werden kann. Aus ihrer gemeinsamen Gefängniszelle kommen sie aber erst dank der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 wieder frei. Noch am selben Tag entsteht ein Portrait Claude Cahuns, auf dem sie in einem Türrahmen zu sehen ist, der Blick wieder direkt in die Kamera gerichtet (Abb. 9). Auch hier sind in ihrer selbstbewussten Haltung Zweifel zu erkennen, vermutlich weniger an sich selbst als an ihrer Umwelt. In einer kleinen, aber deutlichen Geste ist ebenso Triumph zu erkennen: Sie hat sich zwischen die Zähne ein Abzeichen der Nazis geklemmt, deren Zeit nun vorbei ist.

„Männlich? weiblich? Das kommt darauf an. Neutrum ist die einzige Gattung, die mir immer genehm ist.“

Da ihr Anwesen in einem schlechten Zustand ist, kommen Claude Cahun und Suzanne Malherbe zunächst bei einer Bekannten, dann in Gästehäusern unter. Nach und nach sammeln sie ein paar der Möbel, die ihnen durch Plünderungen abhanden gekommen sind, wieder zusammen. Die umfangreiche Bibliothek hat starke Verluste erlitten, die Deutschen, aber auch aufmerksame Inselbewohner haben Einiges mitgenommen. Das fotografische Archiv Claude Cahuns ist nicht mehr vollständig, sie beklagt sich über den Verlust einiger besonders schöner Bilder, es heißt, dass vor allem Aktfotos als Pornografie durch die Hände der Soldaten gegangen sind. Claude und Suzanne richten nach und nach alles wieder her, aber wirklich heimisch fühlen sich die beiden nicht mehr in einem Umfeld, das ihre Erfahrungen nicht teilt und aus dem heraus sie denunziert worden sind. Sie nehmen Kontakte zu früheren Freunden und Bekannten wieder auf, auch zu André Breton, der zunächst noch in den USA weilt. Zeugnisse aus dieser Zeit sind vor allem die langen Briefe, die Claude Cahun an alte Freunde wie Gaston Ferdière und Charles-Henri Barbier schreibt, sowie einige erst 2002 aus dem Nachlass publizierte autobiographische Aufzeichnungen. In wenigen kurzen Aufenthalten in Paris trifft sie ein paar ihrer Freunde und besucht den neuen Treffpunkt der SurrealistInnen. Zu dieser neuen Generation fehlt ihr jedoch der persönliche Bezug. Trotzdem planen Claude Cahun und Suzanne Malherbe eine dauerhafte Rückkehr nach Paris, zu der es nicht mehr kommt, da Claudes seit der Haft arg angeschlagener Gesundheitszustand sich zusehends verschlechtert. Anfang Dezember 1954 wird sie als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert, wo sie nach wenigen Tagen am 8. Dezember verstirbt.
Die Biografie Claude Cahuns zeigt uns eine starke Persönlichkeit, deren Denken sich aus dem steten Zweifeln entwickelt. Dieses Denken lehnt sich gegen jegliche Festlegungen auf: „Masculin? féminin? mais ça dépend les cas. Neutre est le seul genre qui me convienne toujours“.11 Diese Ambivalenz erschwert auch die Versuche, das Werk Claude Cahuns vorrangig unter dem Aspekt ihres Lesbisch-Seins zu betrachten, wofür es in der Rezeption der letzten Jahre mehrere Ansätze gibt. Schwierig allein dadurch, dass sie sich selbst an keiner Stelle explizit als Lesbe bezeichnet, obwohl sie in einer homosexuellen Beziehung gelebt hat. Wichtigere Begriffe sind hier Individualismus, „self-love“ und Egoismus – das Anders-Sein, wie auch ihr Biograf François Lerperlier betont. Er geht darin jedoch so weit, jedes Vorzeichen weiblicher Prägung vor dem Œuvre Claude Cahuns abzulehnen, wobei er wiederum ihre spezifische Körperlichkeit ignoriert. Unabhängig davon lohnt es, den Blick auf Claude Cahun von der Fixierung auf ihre realen und vermeintlich vorgreifenden Beiträge zu den Gender Studies oder aber zum Strukturalismus zu lösen und ihn zum Beispiel auch auf ihre explizite Einmischung in die Debatten der dreißiger Jahre oder aber auf ihre konkreten Tätigkeiten während der deutschen Besatzung zu lenken. Aus der intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Person stellt sich bei ihr eine Eigenverantwortlichkeit her, die die individuelle Aktion zwingend nach sich zieht. In den Debatten hat sich Claude Cahun selber eindeutig als Surrealistin bezeichnet und klar positioniert, um in der Résistance auch dementsprechend zu handeln – all das ohne eine vorgegebene Linie oder Partei, sondern ausschließlich aus ihrem ganz eigenen Antrieb.

  1. „Die Ausnahme bestätigt die Regel – und hebt sie ebenso auf. Mir verlangt manisch nach der Ausnahme. Ich sehe sie höher als die Natur. Ich sehe nichts als sie. Die Regel interessiert mich nur im Bezug auf ihre Abfälle aus denen ich mich speise. So deklassiere ich mich mit Absicht. Pech für mich.“ Aus Aveux non avenus in Écrits, S.367 

  2. „Das Bild der Frau“ 

  3. „Heldinnen“ 

  4. Etwa: „Nichtige Bekenntnisse“ 

  5. „Assoziation revolutionärer Schriftsteller und Künstler“ 

  6. „Die Wetten sind eröffnet“ 

  7. „Für wen schreiben Sie?“ Claude Cahuns Variante: „Gegen wen schreiben Sie?“ 

  8. „Internationaler Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur“ 

  9. „Gegenangriff“ 

  10. „Für eine unabhängige revolutionäre Kunst“ 

  11. „Männlich? weiblich? Das kommt darauf an. Neutrum ist die einzige Gattung, die mir immer genehm ist.“ Aus Aveux non avenus in Écrits, S. 366 

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