O.V. Müller

"Streit war, wenn man sauer ist und recht hat."

Fünf Protokolle übers Streiten

Mit Streit kommt man nirgendwo hin

Bei mir in der Familie wurde entweder richtig geschrien oder geschwiegen. Das Schweigen ging für mich mit entsetzlichen Spannungen einher. Ein Dazwischen gab es kaum. Auseinandersetzungen, in denen unterschiedliche Positionen bearbeitet oder gar Kompromisse gesucht wurden, kannte ich nicht. Wenn es keine einfache Lösung gab, ist alles in Schweigen aufgegangen. Für mich fühlte sich das immer so an, als ob man mit einer falschen Frage wie „Warum seid ihr zusammen?“ das ganze familiäre Konstrukt zum Einsturz bringen konnte. Da ich immer gespürt habe, dass meinen Eltern alles zu viel war, habe ich weder gefragt, noch bin ich negativ oder sonst wie aufgefallen. Das hatte sicherlich auch damit zu tun, dass mein Vater arbeitslos war und die Kinder großzog und meine Mutter arbeiten ging. Eigentlich eine fortschrittliche Rollenverteilung, die aber für beide nach einiger Zeit zum Problem wurde und zudem gesellschaftlich nicht akzeptiert war. Eine Folge davon war, dass ich versucht habe wenig aufzufallen. Ich wollte vermeiden, dass etwaige „Unangepasstheiten“ auf die Lebenssituation meiner Eltern zurückgeführt werden.

Meine Eltern waren sich in Vielem recht ähnlich. Beide haben ihre Bedürfnisse oft hinten angestellt. Für die Kinder haben sie „alles“ getan – eine Tatsache, die uns dann auch immer wie- der zum Vorwurf gemacht wurde. Alltagskleinigkeiten waren oft der Anlass, um Wut und aufgestaute Unzufriedenheit ab- zulassen. Mein Vater ist vom Typ her eher aufbrausend und laut, zum Teil auch bedrohlich. Lange Zeit habe ich mich von ihm eingeschüchtert gefühlt. Es gab häufiger Streit wegen bestimmter Verhaltensweisen von mir, die gar nicht mit einer bestimmten Absicht verbunden waren. Zum Beispiel habe ich ihm mal beim Essen die Salatschüssel gereicht ohne ihn dabei anzuschauen. Da ist er ausgetickt und hat die Schüssel an die Wand geschmissen. Er wollte immer, dass ich ihn mit Respekt behandle. Vielleicht hatte das auch mit der ihm fehlenden Anerkennung und seinem eigenen Rollenkonflikt zu tun. Irgendwann habe ich mir das nicht mehr gefallen lassen. Vor ein paar Jahren hatten wir einen großen Streit. Was der Auslöser war, weiß ich gar nicht mehr. Ich war aber so weit, dass mir der Ausgang des Ganzen egal war. Wir haben uns mehrere Stunden lang angeschrien, doch ich beharrte auf meinen Grenzen. Schließlich hat er gemerkt, wie ernst es mir war und hat eingelenkt. Die restliche Nacht lag ich wach und konnte nicht schlafen. So hatte ich mich noch nie gestritten. Jetzt gibt es hin und wieder noch Streit und Nervereien, aber das Verhältnis ist seitdem definitiv entspannter.

Obwohl meine Mama kontrolliert und recht rational ist, regt sie sich schnell auf. Sie hat ihre Bedürfnisse für die Kinder und die Familie immer hinten angestellt. Auch heute fällt es ihr noch schwer zu sagen, was sie möchte. Sie will keine Ansprüche an die Kinder stellen, möchte jedoch schon, dass alles nach einem bestimmten Plan abläuft. Wenn man diesen nicht befolgt, ist sie enttäuscht, obwohl sie ja eigentlich gar keine Ansprüche hat. Sie könnte doch sagen, wenn sie etwas will oder sich etwas von uns wünscht! Das regt mich immer total auf. Als Kind wurde mir nicht zugetraut, bestimmte Sachen zu verstehen oder zu verkraften und daher wurde mir auch nicht erklärt, was eigentlich los ist. Wir haben überhaupt nicht gelernt, Konflikte auszuhalten oder auszudiskutieren. Die Grundhaltung bei uns war, mit Streit kommt man nirgendwo hin. Also wenn er passiert, macht man ihn schnell wieder ungeschehen. Heute habe ich eher eine gegenteilige Haltung zu Streit. Ich habe das Bedürfnis, viel zu kommunizieren und will mich aus- tauschen. Früher habe ich häufig die Schuld bei der anderen Person gesucht. Streit war, wenn man sauer ist und Recht hat. Man wird emotional und redet aneinander vorbei. Mittler- weile reflektiere ich mehr, weiß, dass der Andere eine eigene Perspektive hat, die nicht automatisch falsch ist. Trotzdem ist es wichtig, sich für die Anerkennung seiner Grenzen einzusetzen.

Außer mit meiner Familie streite ich nur in meiner Zweierbeziehung. Das finde ich schade – Streit ist für mich auch ein Zeichen von Nähe und Vertrauen. Aber oft macht man in Freundschaften seine Enttäuschungen und seine Wut mit sich selbst aus und richtet sie nicht an die andere Person.

Dann geh ick raus und kieke

  • HYPERSENSIBEL, hieß es zu Hause.
  • TEMPERAMENTVOLL, titeln die Zeugnisse.
  • HAT DIE HOSEN AN, urteilen Freunde der Familie.

Und wer steht draußen? Icke!

Hauptsache Wir!

Familienmärchen

In einer Reihenhaushälfte am Rand der Stadt lebte eine Familie und war sehr glücklich. Der Vater ging in seine Werkstatt im Schuppen, die Tochter zur Schule und die Mutter halbtags zur Arbeit. Wie schön, dass ich euch habe, sagte der Vater immer zu ihnen. Ja, sagte die Mutter. Ja, sagte die Tochter. Und sie waren nicht allein. Sie hatten Gänse im Garten, Großeltern in der anderen Reihenhaushälfte und links und rechts ein paar Nachbarn.

Eines Tages bauten die Nachbarn einen Zaun und behaupteten, die Gänse würden immer in ihren Blumenbeeten picken. Da brüllte sie der Vater an, dass sie nichts als ein Haufen Lügner seien und passte ab jetzt genau darauf auf, dass das Wasser aus seiner Sprinkleranlage nicht mehr bis zu ihren Blumen reichte. Von nun an gingen sie immer grußlos an den Nachbarn vorbei und vermieden jeden Blickkontakt mit ihnen. Nicht so schlimm, sagte der Vater. Ich habe ja noch euch. Ja, sagten Mutter und Tochter.

Eines Tages standen Vater und Großvater im Garten und knallten sich gegenseitig Beschimpfungen an ihre hochroten Köpfe. Die Tochter verstand nicht alles und konnte nur ein paar Fetzen aufschnappen: „Ratenzahlung“, „in meiner Schuld“, „wer wohnt denn hier bei wem?“. Von nun an war es ihr nicht mehr erlaubt, die Großeltern zu besuchen. Sie sah sie erst wie- der im Gerichtssaal, als ihre Eltern gegen die Großeltern klagten. Weil ihre Eltern den Prozess verloren, mussten sie aus der Reihenhaushälfte ausziehen. Immerhin habe ich noch euch, sagte der Vater. Ja, sagten Mutter und Tochter.

„Wir sind doch eine Familie. Familien müssen zusammenhalten.“

Sie wohnten jetzt in einem kleineren Häuschen ohne Schuppen. Die Tochter hatte es von hier aus sehr viel weiter zur Schule und die Mutter arbeitete jetzt ganztags, damit sie das neue Haus abbezahlen konnten. Die Gänse hatten fast gar keinen Platz mehr und mussten in einem Gehege bleiben. Das gefiel ihnen nicht und sie veranstalteten nachts ein riesiges Geschrei. Weil man gegen Gänse nicht vor Gericht ziehen kann, warf der Vater die Gänse raus. Sie irrten eine Weile durch das neue Wohngebiet, bis sie entweder von jemand anderem aufgenommen oder von einem Auto angefahren wurden. Hauptsache ich habe euch, sagte der Vater. Ja, sagte die Tochter. Die Mutter sagte nichts.

Irgendwann ging die Tochter nicht mehr zur Schule, weil der Vater es nicht ertrug, wenn sie voneinander getrennt waren. Die Tochter spielte jetzt von morgens bis abends im leeren Gehege. Am liebsten wäre es dem Vater gewesen, wenn auch die Mutter zu Hause geblieben wäre, aber das ging ja nicht wegen des Kredits. Eines Tages kam die Mutter nicht von der Arbeit zu- rück. Auf dem Küchentisch lag ein Brief von ihr. „Ich halte das alles nicht mehr aus“ und „Ich komme nicht zurück“, stand da. Der Vater tobte, riss alle Sachen der Mutter aus den Schränken und warf sie auf die Straße. Dann kroch er zur Tochter ins Gänsegehege und redete auf sie ein: Du bist das Einzige, was ich noch habe. Wir sind doch eine Familie. Und Familien müssen zusammenhalten.

Die Tochter sah in seine rotgeäderten Augen.

Dann explodierte sie.

Und mit ihr das Gehege,

das Haus,

diese ganze innere Zelle.

Ich dachte lange, Streit kann vermieden werden

Wann ich den letzten Streit hatte? Bestimmt vor zehn Minuten. Mit den Kindern passiert das ja sehr oft: Sie sind schnell mal unzufrieden, wenn ihre unmittelbaren Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Manchmal gibt es Tricks, um diese Launen mit Witz und Ablenkungsmanövern zu umschiffen: den Zähneputzstreit mit einer unterhaltsamen Geschichte zu umgehen oder beim Früh-nicht-aus-dem-Bett-Wollen Gedanken und Gespräch auf die Highlights des Tages zu lenken. Doch manchmal gibt es keine Highlights oder man ist selbst so schlapp und von anderem eingenommen, dass die witzigen Geschichten ausbleiben. Dann bleibt noch die Strategie der Kompromissfindung. Doch die ist meiner Erfahrung nach ein langer Lernprozess. Manchmal hat man Lust und Bereitschaft dazu und manchmal will man einfach die eigenen Bedürfnisse durchsetzen. Dann passiert es leicht, dass der Streit wächst und die Fronten sich verhärten. Es gibt immer mal wieder Situationen, in denen ich mich schrecklich hilflos und überfordert fühle. Was soll ich tun, wenn wir eigentlich zum Zug müssen, das Kind aber trotz mehrmaligen Erklärens und der Unterbreitung verschiedener Vorschläge nicht mitkommen will? Kleinkinder kann man im Zweifelsfall noch schreiend auf den Arm nehmen und losgehen, was für mich schon schwierig genug zu lernen war. Aber ein fünf- oder sechsjähriges Kind zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen, gegen seinen Widerstand, ist sehr schwer, körperlich und vor allem emotional. Beständig hämmert die Frage im Kopf: Es muss doch eine andere Lösung geben – aber welche nur? Und die Angst etwas falsch zu machen. Einmal habe ich für ein paar Minuten mit Ge- walt die Tür zugehalten, weil meine vierjährige Tochter nicht aufhören wollte auf mich loszugehen. Das war furchtbar, das eigene Kind quasi einzusperren und gleichzeitig keinen anderen möglichen Umgang zu sehen. Mein Ziel ist es ja, gemeinsam mit den Kindern Lösungen zu finden, die uns allen zusagen. Doch auch Aushandeln und Kompromisse finden kann für alle anstrengend sein; wenn es zum Beispiel eine Stunde dauert, bis man weiß, wer jetzt wie den Samstag verbringt. Allerdings – wenn der Vorschlag lautet, zum Rummel zu gehen, dann dauert es nur drei Minuten.

Das viele Aushandeln und Streiten kenne ich aus meiner eigenen Kindheit nicht. Meine Eltern haben klare Regeln gesetzt und ich kann mich nicht erinnern, mich diesen Regeln verweigert zu haben. Ich war sehr angepasst und mir fiel es leicht, den Ansagen meiner Eltern zu folgen. Riesige Schuldgefühle plagten mich, wenn ich doch mal etwas falsch gemacht hatte. Ich hatte ein immenses Harmoniebedürfnis und wollte nach außen gegenüber Freunden immer vermitteln, dass es zwischen mir und meinen Eltern gut läuft. Auch meine Eltern untereinander haben nicht gestritten. Manchmal kam es vor, dass sie sich zwei bis drei Tage angeschwiegen haben. Diese Anspannung hat sich erst dann aufgelöst, wenn mein Vater irgendwann ein Gespräch über irgendetwas anderes anfing. Der Konflikt wurde ungeklärt unter den Tisch gekehrt.

„Erst durch meine eigenen Kinder wurde ich aufs Streiten gestoßen.“

Als ich älter wurde, zitierte mein Vater mich zu sich, wenn es etwas Ernstes zu besprechen gab. Er machte dann klare Ansa- gen: So, jetzt reden wir darüber. Er hat eine starke Präsenz und eine eher autoritäre Ausstrahlung. Rückblickend erkenne ich darin die Umgangsweisen und Charaktere in seiner eigenen Familie wieder. Gleichzeitig verfolgte mein Vater scheinbar die Idee, mich mit meinen Bedürfnissen in die Aushandlung von Regeln einzubinden und einen gleichberechtigten Umgang zwischen uns zu etablieren. Oft hat er mich beispielsweise in diesen Besprechungen einen Vorschlag machen lassen, wie unsere unterschiedlichen Bedürfnisse miteinander zu vermitteln wären. Da kamen dann einerseits Ergebnisse raus, die auch für mich gut waren, z.B. dass er mich einmal in der Woche auch nachts um vier irgendwo abholt, unter der Bedingung dass ich immer pünktlich nach Hause komme. Andererseits formulierte ich meine Vorschläge in der Regel von vornherein so, dass sie für meine Eltern akzeptabel waren. Ich hatte bereits gelernt, die Anderen mitzudenken. Und auch die autoritäre Art hinter den scheinbar offenen Verhandlungen verfehlte ihre Wirkung auf mich nicht. Zu Hause wurde mir ein rationaler Umgang mit Konflikten bei- gebracht. Ich dachte lange, man kann immer eine gute Lösung finden, durch die Streit vermieden werden kann.

Erst durch meine eigenen Kinder wurde ich aufs Streiten gestoßen. Die Reflexion im Freundeskreis hat mir geholfen zu begreifen, dass Konflikte für Kinder wichtig sind und also nicht per se umgangen werden müssen. Auch mein eigenes Streitverhalten hat sich dadurch ziemlich gewandelt. Anders als früher gelingt es mir heute, eine Position auch mal klar und laut zu vertreten, auch wenn mir das nach wie vor schwer fällt und ich oft schrecklich aufgeregt bin. Trotzdem bin ich nicht der Meinung, dass man immer und überall streiten muss. Meine Empathie für Andere empfinde ich als Stärke.

Die Sehnsucht nach dem guten Streit

Ihren letzten Streit bricht Johanna einfach ab und geht. Er findet an ihrem Institut statt und dreht sich um die Frage, ob man Heidegger lesen müsse. Es heißt, man, also sie, dürfe sich der Lektüre seiner Texte nicht verschließen. Johanna aber hat kein Interesse an Heidegger als Autor; schließlich war er Nazi und auch sprachlich bringen ihr seine Texte nichts.

Es könnte eine inhaltliche Diskussion sein, Argument gegen Argument. Aber ihr Eindruck ist eher, der Andere wolle ihr vorschreiben, was sie lesen muss und wolle ihr mit dem Argument, sie könne nur über Texte, die sie kennt, urteilen, ihre Urteilsfähigkeit im Gesamten absprechen. Du hast doch keine Ahnung! Ich dagegen, ich weiß Bescheid. Johanna mag Streit überhaupt nicht. Diskutieren ist noch okay. Anstrengend wird es, wenn sie das Gefühl hat, nicht ernst genommen zu werden. Wenn die Autorität spricht. Dann hört sie ihren Vater. Sie sagt, sie habe Streiten nie als etwas Positives kennengelernt, auch Versöhnung nicht. Meint sie, es gab diese Erfahrung gelungener Versöhnung nicht oder dass sie mit der Erfahrung von Versöhnung nichts anfangen kann? Ihr Vater hatte ständig an den Anderen etwas auszusetzen und neigte zu cholerischen Ausbrüchen. Er schuf eine Atmosphäre der Unsicherheit.

„Es ging weniger um Inhalte als ums Durchsetzen. Hier wird gemacht, was ich sage.“

Mit ihm hat sie früher viel gestritten und er wurde auch handgreiflich. Verbal übergriffig sowieso. Es ging weniger um Inhalte als ums Durchsetzen. Hier wird gemacht, was ich sage. Johanna äußert ihre Bedürfnisse häufig gar nicht, aus Angst, jemanden zu verletzen. Ihr erster Impuls ist es immer, sich zu sagen: „So schlimm ist das doch nicht“ oder sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Die Scheu davor, Andere vor den Kopf zu stoßen, ihnen Kummer zuzufügen. Die Angst, nicht mehr gemocht zu werden von Menschen, die ihr viel bedeuten. Ihre Strategie ist da ein Vorsprung an Empathie, mit der sie sich selbst nur selten begegnet. Das Gebot: Du darfst den Anderen nichts Unangenehmes sagen. Nicht so sein wie der Vater, vielleicht? Manchmal sagt sie doch was, in der WG zum Beispiel. Bei Alltagskonflikten. Diese Auseinandersetzungen kennt sie aus der Familie auch, mit ihrer Mutter. Der überfüllte Mülleimer, den keiner sieht… Aber das war nie existentiell. Sie wurde da nicht als Person in Frage gestellt und auch das Gegenüber nicht. Sie glaubt, dass sich zwei nur näher kommen können, wenn sie sich manchmal auch im Streit erfahren, die Grenzen des Anderen wahrnehmen. Aber wenn zwei aufeinandertreffen, die nur Streitvermeidung gelernt haben, kommt es wohl zwangsläufig zur Kontrolle der Gefühle, zur Lähmung. Dann fehlt dieses Austarieren von Fremdheit und Anerkennung, das viel- leicht nur im Streit ausgehandelt werden kann. Im Streit könnte man sich angenommen fühlen und trotzdem eigenständig sein.

Die Realität ist anders. In vielen heterosexuellen Beziehungen ist es die Frau, die die emotionale Aufräumarbeit leistet. Und die wird dann schnell zur „hysterischen“ Frau, das kennt sie aus Erzählungen von Freundinnen. Auf solche Festlegungen will sie sich auf keinen Fall einlassen. Niemand kann die Verantwortung für alles Emotionale zwischen zwei Menschen allein übernehmen. Auch wenn sie immer wieder davor zurückschreckt, bleibt in ihr doch eine Sehnsucht nach dem guten Streit.

Nachwort: Über Protokollliteratur

Seit der dritten Ausgabe enthält die outside the box neben theoretischen Arbeiten, Reportagen und künstlerischen Beiträgen auch biographisch-dokumentarische Texte. Nach den Müttergesprächen in Ausgabe #3, den Reflexionen über den Arbeitsalltag der Redakteurinnen und den Handwerkerinnenprotokollen in Ausgabe #4 haben wir diesmal sechs Frauen aus unserem Umfeld zum Thema Streit befragt: Worüber streitet ihr und wie? Welche großen Streite waren besonders einschneidend für euch? Und wie wurde in euren Familien gestritten? Die geführten Gespräche wurden abgetippt und erscheinen nun in diesem Heft – einige von ihnen in mehr, andere in weniger stark bearbeiteter Form. Zwei von ihnen wurden zu einem Text zusammengefasst. Ausgehend von diesen Interviews entspann sich in der Redaktion über das Für und Wider von Protokollliteratur eine längere Diskussion, die jetzt, da ihr diese Zeitschrift in den Händen haltet, noch längst nicht abgeschlossen ist.

Fest steht, dass die geführten Interviews allein schon wegen ihrer geringen Anzahl nicht repräsentativ sind. Auch sind sich die Be- fragten in ihrem sozialen Hintergrund zu ähnlich. Mit den Texten könnte man allenfalls etwas über „Akademikerinnen in Leipzig um die 30“ aussagen. Aber die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit geht noch viel weiter: Ist individuelle Erfahrung überhaupt verallgemeinerbar? Und ist Verallgemeinerbarkeit überhaupt immer das (politische) Ziel? Könnten diese sehr in - timen Gespräche nicht genau von dem handeln, was eben nicht im spätkapitalistischen Subjektivierungsmodell des dauer- lächelnden Arbeitskraftbehälters aufgeht? Die Texte erzählen doch vom eigenen Denkprozess, von Trauer und Verlust, vom Nicht-mehr-Aushalten-Können, vom Widerstand gegen Unerträgliches, sei er auch erstmal nur ein Gedanke. Von dem, was sich nicht so einfach fügt…

Innerhalb der zweiten Frauenbewegung spielten (auto-)biographische Schreibformen eine große Rolle. Weil Frauen feststellen mussten, dass sie im Allgemeinen – der Wissenschaft, der Gesellschaft, der Geschichte – nicht selbstverständlich aufgehoben waren, mussten sie sich andere Wege suchen, um etwas über sich herauszufinden. Einer dieser Wege bestand im Öffentlich machen von Alltagserfahrungen. Frauen begannen, über ihr Leben zu sprechen, das bislang nicht der Rede wert gewesen war: über Arbeitsteilung, Sexualität, Zweierbeziehung und alles andere.

Maxie Wander, die mit ihrem 1977 in der DDR veröffentlichten Protokollbuch Guten Morgen, du Schöne das Genre maßgeblich prägte, schrieb im Vorwort: „Ich halte jedes Leben für hinreichend interessant, um anderen mitgeteilt zu werden.“1 Angesichts der Tatsache, dass sie innerhalb einer männerdominierten Gesellschaft ein Buch veröffentlichte, das ausschließlich Interviews mit Frauen enthält, wird dieser Satz zum emanzipatorischen Akt. Neben diesem Moment der Selbstbewusstwerdung führte das Sprechen über Biographisches auch zur Solidarisierung und Kollektivierung, indem man sich im Bericht der Genossin wieder erkannte: Ach so, du hast beim Vaginalsex auch nie einen Orgasmus? – Das Aussprechen der eigenen Erfahrung konnte eine ungeheure Kraft entfalten, weil es gesellschaftliche Tabus benannte. Von Anfang an jedoch drohte die Strategie, vom Individuellen Verallgemeinerungen abzuleiten, auch auf Irrwege zu führen: genau dann nämlich, wenn die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Selbst nicht mehr als schmerzlich-pragmatische Notlösung begriffen wurde, die auf die Frau als historische Leerstelle reagiert, sondern zur Stilisierung einer „weiblichen Natur“ geriet. Literarische Werke aus den Reihen der zweiten Frauenbewegung entwarfen nicht selten ein Frauenbild, das sich dem unnachgiebigen Durchforsten des eigenen Inneren, teils bis zur Selbstzerstörung, verschrieb. So dichtete etwa Svende Merian in Der Tod des Märchenprinzen, ihrer minutiös-unerbittlichen Schilderung einer scheiternden Liebesbeziehung: „eine zarte und unausweichlich harte liebe, nur in schmerzen vergewaltigung traum enthalten.“2 Man möchte sie beim Lesen schütteln, um sie irgendwie von diesem Leidensweg der masochistischen Selbstaufgabe abzubringen, den die patriarchale Gesellschaft ohnehin von jeher für Frauen vorsah.

„Alle sagen die ganze Zeit alles und nichts folgt daraus.“

Gegen solcherlei Auswüchse des erfahrungsbasierten Schreibens, die letztendlich in der privaten Vereinzelung versacken, ätzte bereits 1983 Die Schwarze Botin, eine der schärfsten feministischen Kritikerinnen der Frauenbewegung im Rückblick auf diese: „Jede Frau sollte ihr Schubkästchen oder Nähkästchen, oder sonstige Orte des Versteckens leerenbewahren und den Schwestern kundtun. Meistens handelte es sich um Texte mit Tagebuchcharakter oder süßliche Lyrik, Texte, die sich so glichen, daß man sie kaum auseinanderhalten konnte.“3 Solch gleichgeschalteter Individualismus ist heute das Gebot der Stunde. In Selbsthilfegruppen, Beziehungsratgebern und Therapiesitzungen wird das Subjekt gescholten, für Probleme selbst verantwortlich zu sein und im Ernstfall einfach die Funktionalitätsschraube enger zu ziehen. Auch ist das Öffentlich machen von Intimem längst kein Tabu mehr, womit man schockieren könnte. Alle sagen die ganze Zeit alles und nichts folgt daraus. Vielleicht sollte die Protokollliteratur heute weniger am Außergewöhnlichen ansetzen, das im Spätkapitalismusvorrangig als Faktor zur Steigerung des eigenen Marktwerts zählt? Könnte die Protokollliteratur nicht vielmehr von dem handeln, was alle leidlich kennen: vom harten Alltag als freieR LohnarbeiterIn ? Denn die Gattung der Protokollliteratur birgt die Möglichkeit in sich, trotz oder gerade wegen ihrer Nähe zum neoliberalen Individualismus, von den Konflikten zu erzählen, mit denen sich die Vereinzelten tagtäglich herumschlagen müssen. Das wären dann weder pure Heldinnengeschichten, in denen die Protagonistin alles hinkriegt, einfach weil sie „darüber redet“ und sich permanent selbst reflektiert, noch pure Opfergeschichten des Rückzugs ins unscheinbare Private. Eher wären es Geschichten, in denen die Widersprüche und Reibungen des Kapitalismus sichtbar werden. Geschichten, die vom Scheitern der Subjekte an der Gesellschaft, von der Konfrontation mit den Verhältnissen erzählen.

So wie Maxie Wanders Interviews kein Privatisieren im schlechten Sinn bedeuten, sondern den historischen Moment einer Erschöpfung beschreiben4, beabsichtigen auch wir mit den Er- fahrungstexten in dieser Ausgabe, die Zwänge der gesellschaftlichen Verhältnisse im Alltag der Einzelnen sichtbar werden zu lassen. Dafür haben wir die Texte – ebenso wie es Maxie Wander für Guten Morgen, du Schöne tat – teils stark gekürzt und verfremdet und waren uns bis zum Schluss nicht ganz einig, ob eine gewisse Fiktionalisierung nicht dabei helfen kann, manche beschriebene Erfahrung noch ernster zu nehmen. Einig sind wir uns aber darin, dass das individuelle Streiten, das ja immer auch ein Streiten ist für das eigene Glück, für das eigene Ich, in der gegenwärtigen Gesellschaft kaum Thema ist, sofern es nicht um leicht lösbare Alltagskonflikte geht.

Der Widerspruch zwischen Subjekt und Gesellschaft ist nicht mal eben schnell zu lösen. Vielleicht kann das Sprechen mit Anderen darüber aber manchmal ein bisschen helfen, sich nicht mehr so sehr auf sich allein zurück geworfen zu fühlen? Dafür mögen diese Texte eine Anregung sein. Und auch denjenigen, die ihr revolutionäres Begehren allzu gern als allgemeinen Aufruf an ein abstraktes Subjekt formulieren, sei gesagt: Die Bewegung wird nicht kommen, ehe Ihr nicht mit Euren Müttern über ihre Zurichtungen gesprochen habt.


O.V. Müller ist die Ur-Enkelin der schon aus früheren outsides bekannten Lieschen Müller und ein temporäres Minikollektiv der Redaktion. O.V. Müller hatte nicht geahnt, dass sich die Idee „Au ja, wir interviewen Leute über ihr Streitverhalten“ in der Umsetzung als so kompliziert herausstellen würde und hatte bis zur Fertigstellung der Texte einige sprachliche, ästhetische und gesellschaftstheoretische Nüsse zu knacken.


  1. Wander, Maxie: Guten Morgen, du Schöne. Protokolle nach Tonband. Suhrkamp/Berlin 2013. S. 10. 

  2. Merian, Svende: Der Tod des Märchenprinzen. Frauenroman. Rowohlt/Reinbek 1983. S.116. 

  3. Classen, Brigitte/ Ruge, Uta: Wünsche nach Kraft durch Freude. In: Die Schwarze Botin Nr. 19/1983. 

  4. Vgl. Brasch, Thomas: Die Wiese hinter der Mauer. Thomas Brasch über Maxie Wander: Guten Morgen, du Schöne. In: Der Spiegel Nr. 31/1978. 

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