Probleme des sozialistischen Feminismus
Vom Aktionsrat zum sozialistischen Frauenbund
Helke Sanders Rede und der anschließende Tomatenwurf auf der SDS-Delegiertenkonferenz im September 1968 gelten heute als Beginn der Zweiten Frauenbewegung. Zwar trieb erst der Kampf gegen den §218 ab 1971 massenweise Frauen auf die Straße, doch sei, so lautet häufig der Tenor, durch diese Tomaten in einem ersten Schritt die Scheinheiligkeit der sozialistischen Männer zum Thema gemacht und die falsche Solidarität der Frauen aufgekündigt worden: Die „Domination der Genossen“1 über die Frauen, welche bis dahin angeblich die Reproduktionsarbeiten und niederen Dienste der Organisation hatten erledigen müssen, habe damit ein Ende gefunden.
Der Vorwurf, die Frauen im SDS seien dazu abgestellt worden, die Flugblätter zu tippen und die Fahnen zu nähen, hält sich beharrlich. Tatsächlich kann die Dominanz der Männer im SDS kaum bestritten werden. Doch gab es beispielsweise mit Sigrid Fronius und Ursula Schmiederer Frauen, die auf Bundesebene eine führende Rolle im SDS spielten. Sigrid Rüger, studentische Sprecherin im Akademischen Senat der FU, war an der Universität bis 1967 bekannter als Rudi Dutschke.2
Und so schreibt auch Helke Sander über den SDS: „Ich würde sogar sagen, wenn damals überhaupt irgendetwas für Frauen attraktiv war, dann war es der SDS, weil Frauen dort intellektuell eine andere Position innehatten.“3 Als Sander, derart an die Organisation gebunden, für den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen vor der SDS-Delegiertenkonferenz sprach, war – so gilt es gegen die antisozialistische Erzählung der Zweiten Frauenbewegung deutlich zu machen – nicht Abspaltung von den Genossen das Ziel, sondern Kooperation und eine konstruktive Veränderung der SDS-Politik: Der Aktionsrat wollte sich einerseits theoretischen Rat von der Organisation einholen und diese andererseits dazu bewegen, auf den Kurs des Aktionsrates einzuschwenken, da ihm dieser erfolgsversprechender für die sozialistische Sache erschien.4
Der Aktionsrat zwischen pragmatischer Lösung und eigenständiger Politik
Zwar war die zum damaligen Zeitpunkt existierende Verbindung von Frauenbefreiung und sozialistischem Kampf von Beginn an von theoretisch prekärem Charakter, doch wurde beides zumindest praktisch in Personalunion geführt. Heute liegt die sozialistische Bewegung darnieder, während der Feminismus, von diesem losgelöst, in einigen Aspekten Teil der Staatsraison geworden ist. In der Anfangszeit der Zweiten Frauenbewegung tobte jedoch ein Richtungsstreit, in dem um die Verbindung zwischen Feminismus und Sozialismus gerungen wurde und in dessen Zentrum sich der Aktionsrat befand.5
Dass bei den allwöchentlichen Treffen des Aktionsrats im Republikanischen Club nun Frauen aufeinandertrafen, die – bis dato stets durch Männer vermittelt – völlig beziehungslos zueinander gestanden hatten, muss eine ungeheure Wirkung auf das Selbstverständnis und das Erkenntnisinteresse der Teilnehmerinnen entfaltet haben.
Dieser war zunächst u.a. mit der pragmatischen Absicht gegründet worden, das Problem, dass Frauen mit Kindern sich nicht politisch betätigen konnten, kollektiv anzugehen. Ergebnis ihrer Anstrengung waren Kinderläden, welche die Frauen entlasten und den Kindern zudem die autoritären Erziehungsmaßnahmen der (rar gesäten) staatlichen Kindergärten ersparen sollten. Dass bei den allwöchentlichen Treffen des Aktionsrats im Republikanischen Club nun Frauen aufeinandertrafen, die – bis dato stets durch Männer vermittelt – völlig beziehungslos zueinander gestanden hatten, muss eine ungeheure Wirkung auf das Selbstverständnis und das Erkenntnisinteresse der Teilnehmerinnen entfaltet haben.6 Dies führte dazu, dass das pragmatische Gründungsmotiv des Aktionsrats schnell ergänzt wurde durch das Bestreben, die Fesselung der Frauen an ihre Kinder selbst theoretisch zu durchdringen und zum Thema des Aktionsrates zu machen. Dieser Schritt führt jedoch auf den brüchigen Boden eines sozialistischen Feminismus, der schließlich unter dem Aktionsrat nachgeben sollte.
Subjektiv spiegelte sich dieser Vorgang zunächst in einer Vielzahl neuer Fragen und Erkenntnisse, die noch keine klare Linie aufwiesen. Dies illustriert auch die Rede Helke Sanders vom September ’68, in der sozialistische und feministische Positionen aneinander gereiht wurden, ohne deren problematische Beziehung zum Thema zu machen. So bezeichnete Sander beispielsweise die Frauen mit Kindern (und damit meinte sie in erster Linie Studentinnen) als „die Gruppen, die am leichtesten politisierbar sind“, da sie das Scheitern der bürgerlichen Emanzipation am eigenen Leib erfahren hätten: „Wenn diese Privilegierten unter den Frauen nun Kinder bekommen, werden sie auf Verhaltensmuster zurückgeworfen, die sie meinten, dank ihrer Emanzipation schon überwunden zu haben.“7 Implizit setzte Sander die (studierenden) Mütter an die Stelle des revolutionären Subjekts, dem der „systemsprengende Widerspruch seiner Forderungen“8 nur noch hätte aufgezeigt werden müssen. Dabei blieb jedoch unklar, worin das systemsprengende Potential der Forderungen liegen sollte und demzufolge auch, welchen Inhalt die Politisierung haben würde. Die Ahnung, dass es sich hierbei um eine sozialistische (d.h. antikapitalistische) handeln würde, ergibt sich weniger aus einer stringenten Argumentation als aus einer Überblendung der unterschiedlichen Motive in Sanders Rede.
Vom Aktionsrat zum Sozialistischen Frauenbund
Kurz nach der im Chaos auseinandergegangenen Frankfurter Delegiertenkonferenz gründeten sich in mehreren westdeutschen Städten autonome Frauengruppen und in den Berliner Aktionsrat strömten von Woche zu Woche mehr Frauen. Darunter befand sich auch Frigga Haug, die Einspruch gegen die sogenannte „Mütterfraktion“ um Sander einlegte. Unterstützt vom Großteil des Aktionsrats konnte sie sich mit ihrer Forderung nach einem Schulungsprogramm schließlich durchsetzen, und die „Mütterfraktion“ verließ die Gruppe.9 Fortan las man im Aktionsrat, der sich alsbald in Sozialistischer Frauenbund Westberlin umbenannte, Marx, Engels, Mao und Zetkin und nahm Abstand von einem spezifischen „Frauenprogramm“. Im Rückblick schreibt Haug: „[D]ie Frauen waren ungeheuer begierig, diese Texte zu lesen, weil ihre Freunde sie auch lasen. Sie wollten sich nicht außerhalb der Kultur begeben, in der sie sich bewegten, indem sie etwas ganz anderes machten. Der Unterschied war eben, dass diese Texte in reinen Frauengruppen gelesen wurden, was eine ungeheuerliche Lernerfahrung für alle war…“10
Es mag nahe liegen, den Konflikt zwischen der Mütter- und der Schulungsfraktion als einen zwischen Praxis und Theorie zu deuten, doch – so wurde schon 1969 festgestellt, als man noch bemüht war, die Spannungen im Aktionsrat zu glätten– hatten beide Fraktionen ein theoretisches Interesse.
Es mag naheliegen, den Konflikt zwischen der Mütter- und der Schulungsfraktion als einen zwischen Praxis und Theorie zu deuten, doch – so wurde schon 1969 festgestellt, als man noch bemüht war, die Spannungen im Aktionsrat zu glätten11 – hatten beide Fraktionen ein theoretisches Interesse. Vor Einführung des Schulungsprogramms hatte der Aktionsrat beispielsweise an einer Kritik der Familie und des „patriarchalischen Wissenschaftsbegriffs“ gearbeitet. Auch sollte nicht das Missverständnis entstehen, eine dieser Gruppen wäre nicht sowohl feministisch als auch sozialistisch gewesen. Zwar lehnte Frigga Haug das Konzept „Feminismus“ ab12, doch stellte der Sozialistische Frauenbund z.B. 1972 die Sprecherin im öffentlichen Hearing zur Reform des §218 und äußerte aus heutiger Perspektive als klassisch feministisch zu bewertende Forderungen, die den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt betrafen.13
Die Frauenorganisation als Durchlauferhitzer
Vielmehr muss der Unterschied zwischen den beiden Gruppen wohl in dem Verhältnis gesehen werden, das die Bewältigung von Frauenproblemen und sozialistische Politik jeweils zueinander einnahmen. So machte der Frauenbund immer wieder deutlich, dass Frauen aus der Isolation der Privatsphäre heraustreten und Teil des gesellschaftlichen Produktionsprozesses werden, sich also vom Hausfrauendasein befreien müssten. Dieses „Müssen“ bestimmte sich jedoch aus der sozialistischen Zielvorgabe, nicht aus den Wünschen der Frauen (wenn die beiden Aspekte auch für viele Frauen zusammengefallen sein mögen). Es beruhte auf der Annahme, dass Frauen erst durch den Eintritt in die Produktion sowohl das nötige Selbstbewusstsein als auch die Erfahrung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit erwerben könnten. Frauen sollten also zuerst Arbeiterinnen, dann Sozialistinnen werden. Eines der beiden wesentlichen Anliegen des Frauenbundes war es demnach, die Berufstätigkeit von Frauen voranzutreiben. Dies hielten die Frauen zudem für realistisch, da sie hierin das Kapital auf ihrer Seite sahen.14
Weiterhin hatte es sich der Frauenbund zur Aufgabe gemacht, Frauen für die Mitwirkung in einer sozialistischen Massenorganisation fit zu machen.
Weiterhin hatte es sich der Frauenbund zur Aufgabe gemacht, Frauen für die Mitwirkung in einer sozialistischen Massenorganisation fit zu machen. So heißt es in der ersten Ausgabe der Pelagea: „Daß wir uns als Frauen zunächst autonom organisieren müssen (mit dem Ziel der Eingliederung in eine revolutionäre Organisation), hat seinen Grund in der Verinnerlichung der jahrhundertealten Unterdrückung der Frauen, die unselbständige, abhängige, mit Minderwertigkeitsgefühlen beladene Individuen hervorgebracht hat. Die gemeinsame Schulung und Organisierung wird unser Bewußtsein entwickeln und uns stärken für den solidarischen Kampf mit den Männern gegen das kapitalistische Herrschaftssystem.“15
An dieser Konzeptualisierung der Frauenorganisation als „Durchlauferhitzer“ für die sozialistische Massenorganisation interessiert an dieser Stelle zweierlei: zunächst die Vorstellung, Frauen könnten sich im Laufschritt von ihrem Geschlecht emanzipieren und auf Augenhöhe mit den männlichen Genossen gelangen. Diese faktische Geringschätzung des eigentlichen Problems suchte Jahre später eine Arbeitsgruppe um Frigga Haug heim, als diese feststellen musste, dass sie trotz langer und intensiver Schulungsarbeit nach wie vor „tief verwurzelt [war] in eben den gesellschaftlichen Verhältnissen, in den Werten und Ideologien, die wir überwinden wollten.“16 Die Frage, woher die Schwierigkeiten von Frauen mit marxistischer Theorie, ihr Desinteresse für Politik und Ökonomie rührten, führte sie schließlich (einer Kreisbewegung gleich) zurück zu dem einst Ausgesparten: der gewordenen Frau und ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation. Der Ausgangspunkt des Aktionsrats, der nach seinem pragmatischen Beginn das Frausein zu einem eigenen Forschungsfeld erhoben hatte, wurde hier spät nachgeholt, wenn auch in eigener Form.17
„Vielleicht muss das gar nicht so sein. Warum sollen wir den Satz „Ihre Schwäche ist ihre Stärke“ nicht auch ernstnehmen?”
Der zweite Aspekt, den die Frauenorganisation als „Durchlauferhitzer“ impliziert, ist die unhinterfragte Ausrichtung des Sozialistischen Frauenbunds an der Politik der männlichen Genossen. Dem Verständnis des Frauenbunds zufolge lag, so lässt sich auch leicht am obigen Zitat ablesen, der zu behebende Mangel einzig bei den Frauen – ihren Minderwertigkeitsgefühlen, ihrer Unselbständigkeit –, und diesen auszugleichen war Aufgabe der autonomen Frauenorganisation. Dagegen kann eine zentrale Szene in Helke Sanders autobiographischem Film Der subjektive Faktor (1980/81) gehalten werden, als Sander zum ersten Mal alleine auf Marianne Herzog (alias Annemarie) trifft und in einer langen Einstellung aus dem Off die Sätze spricht: „Vielleicht muss das gar nicht so sein. Warum sollen wir den Satz „Ihre Schwäche ist ihre Stärke“ nicht auch ernstnehmen? … [V]ielleicht sind wir gar nicht dümmer, unbeholfener, dürftiger – vielleicht sind wir einfach nur anders. […] Vielleicht sind wir ja stark!“
In diesen Sätzen liegt die Ahnung aufgehoben, dass Frauen nicht nur mangelhafte Männer sind, die folglich die Anpassungsleistung zu erbringen haben, sondern dass Frauen möglicherweise einen eigenen Zugang zum Allgemeinen haben und eine eigene Politik entwerfen können. Dieser Aspekt trennt – so wäre hier die These – Aktionsrat und Sozialistischen Frauenbund. Er findet sich in der revolutionären Rolle, die Sander in ihrer Rede den studierenden Müttern zuspricht; in der Proklamation der Kinderläden und der antiautoritären Erziehung als einer möglichen „Weltpolitik“ der Frauen; in der Thematisierung der persönlichen Kosten, die politisches Engagement für alle Teilnehmenden bedeutet (und die Frauen aufgrund ihrer Sozialisation weniger bereit sind hinzunehmen), sowie in der Kritik der Familie und des bürgerlichen Vernunftprinzips. Frauenpolitik wird damit ausdrücklich nicht für Frauen entworfen. Zwar forderte der Aktionsrat auch, Sozialismus so zu bestimmen, dass die Kleinfamilie und die damit einhergehende Zuständigkeit von Frauen für die Hausarbeit aufgehoben werden müssen: „Familie und Sozialismus sind unvereinbar, wenn die Emanzipation der Frauen keine Farce bleiben soll!“18 Doch wird Frauenpolitik ebenso mit dem Anspruch verknüpft „analog zur Arbeiterbewegung … Antworten auf Fragen der ganzen Gesellschaft zu finden, daher nach der politischen Macht zu verlangen und die Gesellschaft dementsprechend umzukrempeln.“19
Kritik des Aktionsrats an der Politik des SDS
Damit wird die Politik der männlichen Genossen nicht nur relativiert als eine mögliche Art, die Umwälzung der Gesellschaft voranzutreiben (gegenüber der die des Aktionsrats effektiver wäre, wie Sander meint). In manchen Aspekten wird sie auch als revolutionäre infrage gestellt. So kritisiert Sander in ihrer Rede, dass die SDS-Politik von Konkurrenzkampf und Leistungsprinzip geprägt sei, während gerade diese abzuschaffen doch das Ziel der Organisation sei. Die entsprechende Zurichtung der Subjekte – die Anpassung an das Hamsterrad politischer Aktivität sowie die damit einhergehende Verdrängung bestimmter Probleme in den tabuisierten Bereich des Privatlebens bzw. die Versagung persönlichen Glücks – schade nicht nur den konkreten Menschen, sie verselbständige sich auch in ihrer politischen Praxis: „Genossen, eure Veranstaltungen sind unerträglich. Ihr seid voll von Hemmungen, die ihr als Aggressionen gegen die Genossen auslassen müßt, die etwas Dummes sagen oder etwas, was ihr schon wißt. Die Aggressionen kommen nur teilweise aus politischen Einsichten in die Dummheit des anderen Lagers. Warum sagt ihr nicht endlich, daß ihr kaputt seid vom letzten Jahr, daß ihr nicht wißt, wie ihr den Streß länger ertragen könnt, euch in politischen Aktionen körperlich und geistig zu verausgaben, ohne damit einen Lustgewinn zu verbinden. Warum diskutiert ihr nicht, bevor ihr neue Kampagnen plant, darüber, wie man sie überhaupt ausführen soll? … Diese Verdrängung wollen wir nicht mehr mitmachen.“20
Der Aktionsrat stellte demgegenüber die kulturrevolutionäre Forderung auf, dass „der Weg zur Emanzipation auch schon in der Methode liegt, mit der man sie anstrebt“, der Weg zum Sozialismus also nicht die Zurichtung der Frau nach dem Modell des bürgerlichen Mannes bedeuten kann.
Sozialistisches Ziel und Bedürfnis der Frauen liegen in dieser Kritik möglicherweise so nah beieinander wie niemals zuvor – näher auch als beim Sozialistischen Frauenbund, der den Frauen den schmerzvollen und tückischen Prozess bürgerlicher Emanzipation abverlangte, indem sie Teil der Produktion werden und sich auf theoretisch abstraktem Niveau bewegen lernen sollten. Der Aktionsrat stellte demgegenüber die kulturrevolutionäre Forderung auf, dass „der Weg zur Emanzipation auch schon in der Methode liegt, mit der man sie anstrebt“21, der Weg zum Sozialismus also nicht die Zurichtung der Frau nach dem Modell des bürgerlichen Mannes bedeuten kann.
Damit liegen sie richtig und doch falsch zugleich. Richtig, als dass bürgerliche Emanzipation, hier: die durch Versagungen entstandene Verhärtung der Revolutionäre, die Sander zu Recht denunziert, sich gegen die revolutionäre Sache selbst wenden kann, beispielsweise wenn sie in Aggression gegen andere umschlägt. Falsch, als dass der Kampf für eine gesellschaftliche Umwälzung notwendig Durchsetzungsvermögen und Beharrlichkeit und damit auch jede Menge Triebverzicht erfordert, was immer auch seine Spuren an den SozialistInnen hinterlassen wird. Umgekehrt ist Sanders Projekt, schon „innerhalb der bestehenden Gesellschaft Modelle einer utopischen Gesellschaft zu entwickeln“22, in denen die eigenen Bedürfnisse endlich einen Platz finden, zwar unbedingt anzustreben; wird diese Forderung jedoch verabsolutiert, ohne der Schranken einzugedenken, die diese Gesellschaft unserer Bedürfnisbefriedigung ab einem bestimmten Punkt setzt, droht ein endloses Herumschrauben an sich selbst und den anderen. Darüber kann die angestrebte gesamtgesellschaftliche Veränderung schnell in Vergessenheit geraten.
In der kulturrevolutionären Forderung liegt so einerseits die Spannung zwischen Kritik und Notwendigkeit männlicher bzw. bürgerlicher Eigenschaften; andererseits die zwischen Reform und Revolution. Diese Spannungen jeweils auszuhalten, scheint mir das Kunststück eines sozialistischen Feminismus (oder eines feministischen Sozialismus) zu sein. Die Spaltung des Aktionsrats bedeutete das Scheitern an dieser Aufgabe und das Auseinanderstreben der zwei Gruppen. Tatsächlich ist die bezeichnete Aufgabe alles andere als ein Kinderspiel. Sie bedeutet, dass nicht einerseits dogmatisch die völlige Unmöglichkeit einer reformistischen Verbesserung des Status quo behauptet wird, wo es im Rahmen der bestehenden Gesellschaft Verbesserungsmöglichkeiten gibt (etwa was die Kollektivierung der Kindererziehung, das Reflektieren des Redeverhaltens usw. anbelangt). Sie bedeutet andererseits aber auch, der Beschränktheit der Möglichkeiten im Hier und Jetzt gewahr zu werden und sich nicht in der schlechten Unmittelbarkeit des Reformismus zu verlieren. Zusammengefasst heißt das, auf praktischem und theoretischem Wege genau zu bestimmen, an welchen Stellen die Unterdrückung von Frauen mit dem Kapitalismus zusammenhängt und wo sie schon jetzt zu bekämpfen ist – wo Reform möglich und Revolution notwendig ist.
Maria-Elisabeth Neuhauss ist Mitglied der Sozialistischen Jugend – die Falken in Jena und der Mädchen- und Frauenpolitischen Kommission des Bundesverbands. Insbesondere auch durch dieses feministische Gremium in einem sozialistischen Verband hat sie begonnen, sich mit der Geschichte sozialistischer Frauen auseinanderzusetzen sowie der Frage nachzugehen, wie feministische und sozialistische Politik sich zueinander verhalten. Dabei stieß sie ziemlich schnell auf Helke Sander und den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, mit deren Rebellion innerhalb des SDS sie sich sofort identifizierte.
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Bei Alice Schwarzer heißt es etwa: „Menschheitsbefreier wollten die Genossen gerne sein, Frauenunterdrücker wollten sie mindestens genauso gerne bleiben.“ In: Dies.: So fing es an! Die neue Frauenbewegung. München 1983. S.14. ↩
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Vgl. Schunter-Kleemann, Susanne: „Wir waren Akteurinnen und nicht etwa die Anhängsel“. In: Kätzel, Ute (Hrsg.): Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration. Berlin 2002. S. 101-119, hier S.118. ↩
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Sander, Helke: „Nicht Opfer sein, sondern Macht haben“. In: Die 68erinnen. a.a.O., S. 161-179, S.164. Mona Steffen, Mitbegründerin des Frankfurter Weiberrats, bietet eine schlüssige Erklärung für die unterschiedlichen Erzählungen über die Rolle der Frauen im SDS. Ihr zufolge machte es einen Unterschied, ob man von der Zeit vor oder nach dem 2. Juni 1967 sprach. Der Erdrutsch in den Mitgliederzahlen sowie die gesteigerte mediale Aufmerksamkeit, die dem SDS nach der Erschießung Benno Ohnesorgs zuteil wurde, brachte den Verband an die Grenzen seiner organisatorischen wie theoretischen Integrationsfähigkeit und förderte zudem einen Personenkult, der die Sitzungen immer mehr zu „Plattformen der Eitelkeiten“ degenerieren ließ. Dies ließ die Frauen (sowie vermutlich auch viele Männer) ins Hintertreffen geraten. Vgl. Steffen, Mona: „SDS, Weiberräte, Feminismus? [1997]“ In: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Hamburg 1998. S. 126-140. ↩
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„[S]ie [die männlichen Genossen, M.N.] versuchen uns unterzujubeln, daß wir behaupten, Frauen brauchten zu ihrer Emanzipation keine Männer und all den Schwachsinn, den wir nie behauptet haben. Sie pochen darauf, daß auch sie unterdrückt sind, was wir ja wissen. Wir sehen es nur nicht mehr länger ein, daß wir ihre Unterdrückung, mit der sie uns unterdrücken, weiter wehrlos hinnehmen sollen. Eben weil wir der Meinung sind, daß eine Emanzipation nur gesamtgesellschaftlich möglich ist, sind wir ja hier.“ Sander, Helke: „Rede des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“. In: Frauenjahrbuch 1, S. 10-15, hier S.12. ↩
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Für den Frankfurter Weiberrat lässt sich möglicherweise eine ähnliche Geschichte schreiben. Vgl. Steffen, Mona: „SDS, Weiberräte, Feminismus?“. a.a.O. ↩
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„Es war so neu, mit Frauen zu sprechen,“ schreibt beispielsweise Helke Sander in Dies.: „Nicht Opfer sein, sondern Macht haben“. a.a.O., S.166. ↩
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„Rede des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“. a.a.O., S.11. ↩
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Ebd. Diese Formulierung erscheint zunächst irritierend, kann eine Forderung ja nur mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in einem Widerspruch stehen (was bedeuten würde, dass sie in ihnen nicht realisiert werden kann), kann selbst aber nicht den Widerspruch enthalten. Das Problem kann an dieser Stelle nicht geklärt werden, da Sander die Forderungen wie auch deren systemsprengenden Charakter ungenannt lässt bzw. nicht genauer fasst. Klar ist jedoch, dass ihre Rede immer wieder darum kreist, dass Frauen an der Trennung von privater und gesellschaftlicher Sphäre leiden und diese aufgehoben werden muss. Da diese Trennung aber nur vermittels besagter Überblendung in Zusammenhang mit der kapitalistischen Produktionsweise gebracht wird, ja sich Sander sogar an einer Stelle von diesem Zusammenhang distanziert („… da eine nur politisch-ökonomische Revolution die Verdrängung des Privatlebens nicht aufhebt…“, Ebd., S.12), bleibt ihr „systemischer“ Charakter sowie dementsprechend der systemsprengende der Forderungen unklar. ↩
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Die Gruppe Brot und Rosen arbeitete ab 1971 an ähnlichen Themen wie die Gründungsgruppe des Aktionsrates. Sie gab das viel diskutierte Frauenhandbuch Nr. 1 zum Thema Abtreibung und Verhütungsmittel heraus. ↩
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Haug, Frigga: „Frauenpolitik galt als kleinbürgerlich“. In: Die 68erinnen. a.a.O., S. 181-198, hier S.192.7 „Rede des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“. a.a.O., S.11. ↩
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Vgl. „Theorie und Praxis. Diskussionsgrundlage für das Organisationsproblem im Aktionsrat [Oktober 1969]“. In: Schlaeger, Hilke (Hrsg.): Mein Kopf gehört mir. Zwanzig Jahre Frauenbewegung. München 1988. S. 64-69. ↩
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Vgl. etwa Haug, Frigga: „Verteidigung der Frauenbewegung gegen den Feminismus“. In: Dies: Für eine sozialistische Frauenbewegung. Berlin/West 1978. S. 16-25. ↩
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Frauenarbeitslosigkeit und die Situation der Hausfrau waren stets wiederkehrende Themen in Pelagea, der Zeitschrift des Sozialistischen Frauenbundes. ↩
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„Auch der Kapitalismus braucht die Frauen in zunehmendem Maße als Berufstätige, ist angewiesen darauf, daß sie etwas lernen, kann kein großes Interesse mehr an ihrer fehlenden Gleichberechtigung haben. Das schließt den Kampf der Frauen um ihre Rechte nicht aus, sondern macht ihn im Gegenteil erst erfolgsversprechend.“ In: Haug, Frigga: „Verteidigung der Frauenbewegung gegen den Feminismus“. a.a.O., S.24. ↩
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„Einleitung“. In: Pelagea. Berliner Materialien zur Frauenemanzipation. Heft 1 (Mai 1970). S.3. ↩
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Haug, Frigga: „Wie Pelagea Wlassowa Feministin wurde“. In: Heinrich- Böll-Stiftung und Feministisches Institut (Hrsg.): Wie weit flog die Tomate? Eine 68erinnen-Gala der Reflexion. Berlin 1999. S. 189-198, hier S.195. ↩
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Ergebnis war die sogenannte „Erinnerungsarbeit“, in der die weibliche Sozialisation der Einzelnen kollektiv aufgearbeitet werden sollte. Vgl. Haug, Frigga: Erinnerungsarbeit. Hamburg 1990. ↩
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„Bekanntmachung des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen. Gruppe: Gegen das Alte und für das Neue. FRAUEN GEMEINSAM SIND STARK.“ In: Menschik, Jutta (Hrsg.): Grundlagentexte zur Emanzipation der Frau. Köln 1976. S. 361-363, hier S.362. ↩
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Sander, Helke: „Überlegung zur Bewegung“. In: Mues, Ingeborg (Hrsg.): Was Frauen bewegt und was sie bewegen. Frankfurt/Main 1998. S. 283-303, hier S.292. [Hervorhebung M.N.] ↩
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Sander, Helke: „Rede des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“. a.a.O., S.13. ↩
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Ebd., S.11. ↩
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Ebd., S.14. ↩