Charlotte Mohs

Nachwort

zum Neuabdruck von Barbara Sichtermanns Text „Von einem Silbermesser zerteilt –“

Der hier dokumentierte Text „Von einem Silbermesser zerteilt –“ von Barbara Sichtermann wurde das erste Mal 1982 im Sammelband Liebesgeschichten, herausgegeben von Christel Göbelsmann und Jochen Schimmang, veröffentlicht und im darauffolgenden Jahr erneut in einer Aufsatzsammlung von Sichtermann unter dem Titel Weiblichkeit. Zur Politik des Privaten publiziert. Die in diesem Band versammelten zehn Texte behandeln alle im weitesten Sinne das Thema weibliche Sexualität. Sichtermann unternimmt darin den Versuch einer kritischen Selbstverständigung über die in der Frauenbewegung neu aufgekommenen Diskussionen über das weibliche Begehren als eine unerkannte, unterdrückte und zu befreiende Potenz. In der Einleitung zum Band erklärt Sichtermann ihr Motiv: Der Frauenbewegung mangele es am „Streit mit Niveau“1. Nach deren Erfolgen seien ihr die „Warum-Frager/innen“ und die „Zahl ihrer (ernstzunehmenden) Gegner“ abhanden gekommen, „die sie zur Kritik ihrer Thesen anhielten“. Eine soziale Bewegung ohne Kritiker_innen würde jedoch zwangsläufig in eine Phase der Stagnation geraten. In dieser Situation helfe „nur noch eins: innerhalb der eigenen Reihen den Posten einer advocata diaboli auszuschreiben, mit der Selbstkritik also ernst zu machen und mit ihr an die Öffentlichkeit zu gehen“. Und Sichtermann macht der Rolle der advocata diaboli alle Ehre, denn es gelingt ihr, einige der drängendsten Fragen der Frauenbewegung über die weibliche Lust aufzugreifen und deren Beschränkungen, Widersprüche und unabgegoltene Momente zu beleuchten.

Und doch scheint es unwahrscheinlich, dass das patriarchal organisierte Geschlechterverhältnis sich ausgerechnet im Bereich der Sexualität gänzlich aufgelöst haben soll, während es sich auf anderen Gebieten, etwa der geschlechtlichen Arbeitsteilung, hartnäckig reproduziert.

So beschäftigt sich „Von einem Silbermesser zerteilt –“ in sehr aufschlussreicher Art und Weise mit dem weiblichen Begehren, der sexuellen Beziehung zwischen Frauen und Männern und der Schwierigkeit, diese konstruktiv zu verändern. Ausgangspunkt bilden Überlegungen zu der Fähigkeit der Frauen, Objekte zu bilden. Gemeint ist die Fähigkeit, sich als Subjekt in ein aktives Verhältnis zur Welt zu setzen, ein Ding oder einen Menschen „für sich [zu] setzen, [zu] isolieren und wissen [zu] wollen, was es mit ihm, mit ihr auf sich hat“.2 Das Objekte-Bilden steht damit für Sichtermann im Gegensatz zum bisherigen Objektstatus der Frau und macht sie zu aktiv-begehrenden Subjekten. Es hieße, das Vergnügen an der eigenen Lust zu finden und den Anderen als Subjekt zu begehren, was ebenso das Entdecken und Zulassen aggressiver Regungen einschlösse. Mit dieser Charakterisierung wendet sich Sichtermann gegen zeitgenössische Positionen, die dazu tendierten, weibliche Lust auf ihre zärtlichen, harmonischen Anteile zu reduzieren und das Aggressiv-Bedrohliche als vermeintliche männliche Zutat zurückzuweisen. Entsprechend attestiert sie der Frauenbewegung auf dem Gebiet der weiblichen Lust und der sexuellen Beziehungen Nachholbedarf. Ihrem Urteil zufolge blieb die Auseinandersetzung zwischen weiblich-passivem und männlich-aktivem Begehren das rote Tuch der Frauenbewegung und die heterosexuelle Beziehung einer Umwälzung schuldig. Frauen schreckten davor zurück, innerhalb der Beziehung zu Männern etwas Neues an die Stelle des Altbekannten zu setzen. „Statt der fälligen Auseinandersetzung zogen sich die Frauen in Frauen- und die Männer in Männergruppen zurück.“3

Die Natur wäre dann nicht die ‚echte‘ (also bloße Natur), sondern die als eigene erlebte, die selbst gefühlte und überschrittene.“

Die eine oder andere Leser_in stellte sich während des Lesens womöglich die Frage, warum gerade dieser Text über die weibliche Lust und heterosexuelle Beziehungen aus der Mottenkiste gekramt wurde? Wenn man der Cosmopolitan Glauben schenken darf, dann gehört es heute zum Frau-Sein dazu, eine selbstbestimmte und aktive Sexualität zu leben. Und ist die Auseinandersetzung mit der heterosexuellen Zweierbeziehung in Zeiten des queeren Feminismus nicht sowieso Relikt aus alter Vorzeit? Wissen wir nicht längst, dass die heteronormative Matrix uns alle in zwei beschränkte Identitäten zwängt und deshalb aufgehoben gehört? Ohne Frage! Aber bis es so weit ist, lasst uns die Diskussion über (weibliche) Lust fortführen. Dafür sind die Überlegungen von Sichtermann aufgrund ihrer theoretischen Tiefe sehr erhellend und immer noch aktuell. Zudem nimmt die Autorin eine erfrischende materialistische Perspektive ein, die es gerade in Hinblick auf die heutige Diskussion ins Gedächtnis zu rufen gilt.4
Ich beginne mit ein paar Überlegungen zur Frage der Aktualität einer spezifisch männlichen und weiblichen Sexualität. Natürlich hat die Zeit in den letzten 30 Jahren nicht stillgestanden. Die Subjekte, ihr Begehren und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen haben sich gewandelt. Der klitorale Orgasmus ist kein Fremdwort mehr, die meisten Frauen trauen sich vermutlich weitaus häufiger, ihre sexuellen Bedürfnisse zu formulieren und nicht wenige Männer haben gelernt, aufmerksam und zärtlich zu sein. Und doch scheint es unwahrscheinlich, dass das patriarchal organisierte Geschlechterverhältnis sich ausgerechnet im Bereich der Sexualität gänzlich aufgelöst haben soll, während es sich auf anderen Gebieten, etwa der geschlechtlichen Arbeitsteilung, hartnäckig reproduziert. Indizien für dessen Fortwirken gibt es denn auch einige. Schon in den spektakulären Bildwelten, die wir tagtäglich konsumieren, zeigt sich die Aktualität der Dualität zwischen weiblich-passiv-begehrenswert und männlich-aktiv-begehrend. Die glatten Frauenkörper der Werbeplakate zeigen deutlich, dass Frau-Sein weiterhin wesentlich beinhaltet, gut auszusehen und begehrenswert zu sein, anstatt zu begehren. Wer aus diesem Bild ausschert, läuft Gefahr, als Luder oder Schlampe abgestempelt zu werden und die verbreitete Frauenverachtung zu spüren zu kriegen. Ebenso zeugt das autoaggressive Verhalten vieler Frauen gegenüber ihren Körpern von der Persistenz einer dezidiert weiblichen Begehrensstruktur. Immer mehr Frauen ist ihr Körper derart verhasst, dass er statt zur Erfahrung von Lust zum bevorzugten Austragungsobjekt ihrer psychischen Konflikte werden konnte. Der steigende Zwang zur äußerlichen Optimierung und Leistungssteigerung des eigenen Körpers tut sein Übriges, diesen nicht mehr als lustvoll erleben zu können. Unwahrscheinlich daher, dass das Bild des omnipotenten Mannes und der Frau, die begehrt werden will, nicht mehr bis in die Schlafzimmer gelangt. Entsprechend äußert eine 16-Jährige in einer Online- Reportage über die sexuellen Erfahrungen von Jugendlichen: „Zuerst geht es um die Bedürfnisse der Jungs. Wenn man etwas mehr Erfahrung hat, darf man auch als Frau Ansprüche stellen.“5
Die Sexualität der Subjekte ist auch heute nicht unabhängig von deren weiblicher bzw. männlicher Subjektwerdung. Bereits in unseren ersten Kinderjahren machen wir Erfahrungen, die unser körperliches Lustempfinden prägen. Schon wenn man Kinder beim Spielen beobachtet, springt der Unterschied des Verhältnisses von Jungen und Mädchen zu ihrem Körper ins Auge: In den meisten Fällen sieht man Jungs ihre Aggressionen an einem Fußball und im Spiel mit anderen Jungs auslassen, dabei stürmisch und mit körperlichem Selbstbewusstsein die Außenwelt beherrschend. Das Spiel der Mädchen zeichnet sich eher durch eine sorgfältige Gestaltung der Umgebung aus, in der aggressive Fantasien kaum einen Platz haben. Sie lernen frühzeitig, nicht zerstörerisch auf ihre Umgebung einzuwirken: körperliche Grenzen zu wahren, die Bedürfnisse der Anderen zu achten und für andere da zu sein. Dieser wesentliche Aspekt in der weiblichen Subjektwerdung, körperliche Empfindungen und Aggressionsfantasien frühzeitig zu kontrollieren, prägt ihre Begehrensstruktur auch in späteren Jahren.
Vor diesem Hintergrund der Kontinuität männlichen und weiblichen Begehrens wird Sichtermanns Schilderung der Sexualität als tief in den Subjekten verankerte Begehrensstruktur interessant. Denn die Kritik des Geschlechterverhältnisses geht nicht allein in der Frage auf, wer die Kinder betreut und die Wäsche wäscht oder ob Frauen arbeiten gehen. Weil die Geschlechtsidentität so tief in unserer Sexualität verankert ist, muss die Kritik immer auch die psychosexuelle Dimension und die Beziehungen, die aus ihr folgen, in den Blick nehmen. Wenn Sichtermann schreibt, dass sich das weibliche Begehren in einer patriarchalen Gesellschaft kaum anders entwickeln kann, als ein „gebrochener, zerstückelter, verbogener, entstellter Trieb“6, thematisiert sie genau diese notwendig beschränkte, im Unbewussten entstandene Begehrensstruktur. Dabei wird die materialistische Perspektive des Textes deutlich: Sichtermann betrachtet – in diesem Fall das heterosexuelle – Begehren in dessen individueller Geschichtlichkeit das unter ganz konkreten gesellschaftlichen Bedingungen so geworden ist, wie es ist.7 Damit bringt sie die fast vergessene psychoanalytische Einsicht über das menschliche Triebleben wieder ins Bewusstsein, gemäß der die sexuelle Identität Ergebnis einer langen konflikthaften Geschichte von Wünschen, Versagungen und Fantasien ist. Hinter dieser Geschichte steht die leibliche Lust, die sich im Spannungsfeld zwischen Natur und Gesellschaft ihren Weg bahnt. Indem der Mensch nicht nur als gesellschaftliches sondern auch als leibliches Wesen begriffen wird, wird gewissermaßen auch die Idee einer Dekonstruktion von männlich und weiblich, die in den letzten Jahrzehnten mit der Queerbewegung Aufschwung erhalten hat, materialistisch zurückgebunden an die Realität körperlicher Lust. Wird Begehren als gleichzeitig leiblich und durch die Gesellschaft Gewordenes gedacht, beinhaltet dies auch die Möglichkeit der Veränderung, die in einer anderen Vergesellschaftung des Natürlichen läge. Das heißt, wenn das der menschlichen Natur innewohnende Potential im Laufe der individuellen Geschichte nicht verstellt und gehemmt, sondern realisiert würde: „Geschichte ist es, die in der Sexualität Natur möglich macht, den Körper in sein Recht setzt, ihm sein eigenes, uns manchmal unverständliches, aber freundliches Leben gestattet.“ Natürlich Natur nicht verstanden als reine, sondern als durch die Gesellschaft geprägte: „Die Natur wäre dann nicht die ‚echte‘ (also bloße Natur), sondern die als eigene erlebte, die selbst gefühlte und überschrittene. Eine als Vorwand für Unterdrückung hergenommene Natur wird ja immer beschädigt – sie wird gerade ‚unrein‘, wird zum Krüppel. Das heißt aber, daß die Arbeit heraus aus der Unterdrückung doch wieder auf Natur rekurrieren muß – nicht auf eine unbeschädigte, aber auf eine anders, heilsam zu vergesellschaftende. […] ‚Befreiung auf Basis der Natur‘ hieße also: die den Körpern innewohnenden Möglichkeiten entwickeln.“8
Was wäre diese dem Körper innewohnende Potentialität in Bezug auf das weibliche und männliche Begehren? Laut Sichtermann könnten wir dieser näherkommen, indem die lange eingeübten Rollen von Subjekt-Objekt und Männlich-Weiblich in der direkten Auseinandersetzung miteinander verflüssigt werden. Denn erst in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber kann das als heterosexuell beschränkte Begehren über seine Grenzen hinausgelangen. Beide Seiten müssten sich dafür die psychischen Repräsentanzen nicht nur des eigenen sondern auch die verworfenen und verdrängten des anderen Geschlechts aneignen. Frauen, indem sie ihre aktiv-aggressiven Impulse entdecken und sich der „überraschend-grenzensprengenden Potenz“9 ihrer Lust mit neuem Mut hingeben. Männer, indem sie sich in der Fähigkeit üben, als Objekt Lust zu empfangen, um ihre ganz eigene historische Schwäche zu überwinden. „Lust setzte dann Objektivierung ebenso voraus wie Objekt-Sein, also Passivität.“10 Durch eine „Verflüssigung der Positionen“ von Aktiv und Passiv könnte das heterosexuelle Begehren in etwas Neues überführt werden. Diese Perspektive eines Wandels der Liebesbeziehungen durch und im Streit zwischen den Geschlechtern wendet sich nicht zuletzt gegen individualistische Lösungen, in der die Verantwortung allein den Frauen zukommt. Zum Geschlechterverhältnis gehören – dies liegt bereits in dessen Begriff – seit jeher zwei, und die Auseinandersetzung um die verhärteten binären Geschlechtsidentitäten muss wohl oder übel miteinander ausgetragen werden, wollen wir darin vorankommen, sie aufzulösen.


LITERATUR

Göbelsmann, Christel/Schimmang, Jochen (Hg.): Liebesgeschichten. Frankfurt a.M. 1982.
Kunz, Nina/Kuratli, Micha: Und dann muss man an diesem Sex auch noch höchsten Gefallen finden. https://www.woz.ch/-68f3.
Sichtermann, Barbara: Weiblichkeit. Zur Politik des Privaten. Berlin 1983.
Dies.: Über die verlorene Erotik der Brüste. In: dies.: Weiblichkeit. Zur Politik des Privaten. Berlin 1983. S. 57-69.
Dies.: Das Phantom „weibliche Sexualität“. In: Weiblichkeit. Zur Politik des Privaten. Berlin 1983. S. 114-125.


  1. Alle Zitationen in diesem Abschnitt sind aus dem Vorwort zu: Sichtermann, Barbara: Weiblichkeit. Zur Politik des Privaten. Berlin 1983. S. 9. 

  2. Dies.: „Von einem Silbermesser zerteilt – “. In: dies.: Weiblichkeit. a.a.O. S. 72. 

  3. Dies.: Der Mythos von der Herbeiführbarkeit. In: dies.: Weiblichkeit. a.a.O. S. S. 18. 

  4. Die anderen Aufsätze des erwähnten Sammelbandes seien an dieser Stelle gleichermaßen zur Lektüre empfohlen. 

  5. Kunz, Nina/ Kuratli, Micha: Und dann muss man an diesem Sex auch noch höchsten Gefallen finden, siehe: https://www.woz.ch/-68f3. 

  6. Sichtermann, Barbara: „Von einem Silbermesser zerteilt –“, a.a.O. S. 74. 

  7. Dass es in Sichtermanns Text ausschließlich um das heterosexuelle Begehren geht, mag heute etwas beschränkt anmuten, sind wir es doch gewohnt, die Unterschiedlichkeit sexueller Identitäten zu betonen. Aus feministischer Perspektive sollte man die Ausführungen dennoch ernst nehmen. Denn zum Einen ist sie immer noch die gesellschaftlich dominante Form der Zweierbeziehung und verdient schon deshalb unsere Aufmerksamkeit. Zum Anderen ist die von Sichtermann thematisierte Struktur von Subjekt und Objekt (und damit von Aktivität und Passivität etc.) kein Alleinstellungsmerkmal heterosexuellen Begehrens, sondern spielt – wenn auch in anderer Weise – ebenso in anderen Beziehungen eine Rolle. 

  8. Dies.: Über die verlorene Erotik der Brüste. In: dies.: Weiblichkeit. a.a.O. S. 64. 

  9. Dies.: „Von einem Silbermesser zerteilt – “. In: dies.: Weiblichkeit. a.a.O. S. 77. 

  10. Ebd. S. 80. 

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