An die hebräische Frau
Ich will nicht die Frage behandeln, ob laut dem Kern aller gesellschaftlichen Gesetze die Frau der Gleichberechtigung „würdig“ ist, – und da für mich klar ist, dass die Gesellschaft in ihren Grundlagen zwischen Geschlecht und Geschlecht keinen Unterschied macht, und dass der Unterschied, zumindest heutzutage, hergestellt und unnatürlich ist – will ich nun einige Lichtlinien über die „Frage“ legen, die eine brennende geworden ist, insbesondere im Leben der Bevölkerung in Jaffa.
Ob ihr es wollt oder nicht, uns allen muss es klar sein, dass die „fröhliche“ Zeit, in der die Frau „heilig heilig“ nach jedem Wort sagte, das von ihrem Patron ausging, vorbei ist. Diese „Schechina“1, die in den Häusern Israels, in den hebräischen Familien wohnte, in der eine Stimmung des „Verdränge deinen Willen gegenüber dem Willen deines Mannes“ herrschte, zog aus.
Die Vergangenheit zu bedauern, [oder] zurückzukehren in das vergangene Leben – das würde niemand von uns wollen. Das Leben fließt weiter, fließt und trägt in sich das Gute sowie das Böse – das kann niemand aufhalten und das soll auch niemand aufhalten.
Auf die Frage „Hebräerin, wirst du dein Leben kennen [begreifen können]?“2 – kommt die Antwort: Ich kannte Leere, Mangel an Selbstbestimmung, [ich war wie] ein abhängiges Organ einer organisierten Gesellschaft. Aber demgegenüber besteht hier der Wunsch nach Freiheit, der Wille zur Befreiung aus menschlichen Ketten, die bis zu einem bestimmten Punkt einige Schritte zu laufen „erlauben“ und dann jenseits dieses Punktes behaupten, dass ein Unterschied zwischen mir und dir [weibliche Form] besteht.
Unsere Vorfahren gaben ihren Jungen und insbesondere ihren Mädchen Liebe und einen profunden Glauben, nicht bloß zum „Ort“, sondern auch zum „Freund“.3 […] Generationen sind vergangen, die Augen wurden geöffnet und es beginnt ein Kapitel von Unzufriedenheit, von Leid, Bitterkeit und Mangel an Glauben … und das ganze Herz der hebräischen Frau wird zerrissen … und die Töchter Israels wachsen ohne Lehre und ohne Taten auf.4 Und das israelische Mädchen wandert ohne nationale Erziehung auf dem Weg des Lebens, und der Weg ist schwer, sehr schwer. Das Mädchen Israels wandert in fremden Gegenden herum, in der russo-jüdischen Gegend, in der anglo-jüdischen oder deutschen und die Leere ist groß. Tohuwabohu überall – ein Galuth-Leben im Galuth5 […].
Und dann kam eine neue Ära in ihrem Leben: In den letzten zwei Jahrzehnten fand die hebräische Vorkämpferin eine erfüllende Aufbauarbeit hier im Land, erfüllend in dem Sinne, dass sie sie zu dem Bewusstsein brachte, dass ihr Leben im Galuth – eine Negation ist. Sie suchte die vollständige Verwirklichung und suchte sie auf dem selben Weg, der dunkel und erleuchtet ist, der uns führt und uns die vollkommene Wiederauferstehung bringen wird.
In den selben relativ kleinen und wenigen Kreisen, den Arbeiterkreisen, fand die hebräische Vorkämpferin für sich und ihre Arbeit breite Betätigungsfelder. Soziale Schranken bestanden nicht. Der hebräische Vorkämpfer war genauso wenig berechtigt, am offiziellen Leben teilzuhaben, wie die Vorkämpferin. Ohne Anspruch auf Menschenrechte waren sie beide, als „vorübergehende Bewohner“, und sie hoffen auf die Erweiterung der Grenzen.6 […] Das Herz des Israeliten und der Israelitin begann aufgeregt zu klopfen angesichts der gemeinsamen Forderung nach Gleichberechtigung im Leben der Gesellschaft und der Bevölkerung.
Gleich mit der Teil-Befreiung des Landes, der Befreiung von Judäa,7 begann das kleine Jeschuw sich zu organisieren und die verschiedenen Strömungen zu vereinigen, um, wann immer es nötig wäre, als eine nationale Einheit mit allen ihren verschiedenen Schattierungen aufzutreten. […] Die hebräische Frau, auch die, die ihren „besonderen Zustand“ akzeptierte – ist aufgewacht. Als die Zeit der Arbeit kam, die Zeit der Wiederauferstehung, rührte die Anforderung an ihr Herz und sie trat auf die Bühne des öffentlichen Lebens […]
Seit Beginn der Organisation der Wahl zu Stadtverwaltung in Jaffa ist die Frage der Frau zur obersten Frage geworden. Reaktionäre Kreise in Jaffa, und vor allem „Adass Isroel“8,
wollten den Frauen das Wahlrecht vorenthalten. Darüber hinaus wollten sie sogar die Teilnahme von Frauen an der Vollversammlung in Jaffa verhindern, in der diese Frage behandelt und gelöst sein sollte.
[…]
In dieser Versammlung sollte das Schicksal der hebräischen Frau beschlossen werden, und zwar, ob sie als Mensch und als Anteil der Gesellschaft anzuerkennen ist, oder ihr dieses Recht zu leugnen sei.
Trotz des Wunsches von „Adass Isroel“ nahmen Frauen an der Versammlung teil. Unsere Orthodoxen rüsteten sich mit Zitaten aus der Bibel, anhand eifriger Reden wollten sie mit Zeichen und Wundern nachweisen, dass die Thora die Teilhabe der Frau im öffentlichen Leben verbietet, das wollten sie nachweisen – haben es aber nicht nachgewiesen. Die hebräische Frau trat auf und verteidigte ihr Recht, auch mithilfe der Thora. Die Orthodoxie wollte ihr Glück mittels „Hand-Erheben“ versuchen, aber die Mehrheit, die große Mehrheit war für die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Wahl.
Und die jammernden Kreise gaben nicht auf, auch nicht mit der Entscheidung der Vollversammlung, und begannen ein Referendum zu fordern. Dieses sollte das Schicksal der Frau bestimmen. Woher haben es nur die „Gottesfürchtenden“, dass es im Vermögen eines Referendums steht zu erlauben, was die Thora selbst verbietet – das weiß niemand!
Und nebenbei gibt es private Ziele, geringe, von Menschen, und zwar Ziele, die strittig sind, und alle geben natürlich der Frau die Schuld für die Entzweiung, und behaupten, sie störe den Frieden der Stadt.
[…]
Im November wurde die zweite Gründungsversammlung einberufen, zu verschiedenen Fragen des Jeschuws und seinem Verhältnis zur Gründungsversammlung. […] An dieser Versammlung nahmen auch die Hauptrabbiner der Gemeinden teil und auch sie haben nicht aus der Thora hergeleitet, dass die Thora die Teilhabe von Frauen an der öffentlichen Arbeit verbietet. […]
Nach vier Tagen eines „stürmischen Krieges“ in der Gründungsversammlung entschlossen sich die Linksparteien, die die Mehrheit in der Versammlung stellten, aus politischen Gründen und zum Wohle der Einigkeit des kleinen Jeschuws, aufzugeben und einen Kompromiss zu schließen, in welchem den Frauen nur ein aktives und kein passives Wahlrecht im gesamten eroberten Territorium angekündigt wurde. Man fand eine Halb-Erlaubnis, die Frau darf wählen, also das Schicksal der Gründungsversammlung bestimmen, aber darf überhaupt nicht gewählt werden!
Die Demokratie merkte nicht, dass außer der Sünde gegen die Hälfte des Jeschuws, dieser Kompromiss das ganze Jeschuw gefährden würde […] zum Wohle der Einigkeit beeilten sie sich, die Demokratie selbst zu beeinträchtigen.
Die Rabbiner begründeten in der Gründungsversammlung ihren Widerspruch gegen die Gleichberechtigung der Mann und Frau nicht – und es ist ja kein Wunder: Wer weiß besser als sie, dass unsere Thora, die Thora des Lebens, die Thora der menschlichen und sozialen Freiheit, nicht zwischen Mensch und Mensch unterscheidet oder Grenzen zieht.
Die 613 Gebote der Thora [zum Beispiel], zu denen der Mann verpflichtet ist und die Frau davon befreit – [stellen die Frage:] bedeutet dieser Unterschied eine Verneinung ihrer Rechte, die Gebote zu befolgen? Es gibt Sachen der Erlaubnis und der Verpflichtung. Unsere Weisen wussten, dass der Fluch der Frau: „Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären“9 viel schlimmer ist als der des Mannes: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“10 Dieser ist in der Öffentlichkeit, im Feld, unter dem Himmel, und nicht in der Beengtheit, auf winzigem Raum – wie die Leiden der Frau, so sind die Gebote in ihre Hand gegeben, und nicht als Pflicht. Und unsere Orthodoxen sollen uns keine neuen Thoras und neue Regeln auferlegen und aufbürden.
Nun stehen wir kurz vor der Wahl zur Gründungsversammlung. In dieser Versammlung wird die hebräische innere und äußere Repräsentanz [Volksvertreter] gewählt. Diese Versammlung soll uns den ersten Kern eines allgemeinen Zusammenschlusses der Juden in Eretz-Israel bringen. Zahlreich sind die Fragen, die nun vor dieser Versammlung stehen werden, und wichtig werden ihre Ergebnisse sein. In dieser Versammlung soll die Frau nicht abwesend sein. Die hebräische Frau in Eretz-Israel wird diesmal an der Wahl teilnehmen, und als die Hälfte des Jeschuws hat sie auch Entscheidungsbefugnis zum Guten und zum Schlechten. Das „HaMisrachi“11 und alle orthodoxen Kreise, die erst nach der Deklaration [Balfour-Deklaration] Zionisten geworden sind12 und der Fahne des „HaMisrachi“ anhingen, sollen daran denken, wie auch alle daran denken sollen, dass wir alle zu einem Zusammenschluss gehören, dem zionistischen Zusammenschluss, und dieser Zusammenschluss verkündete noch bei seiner Gründung die vollständige Gleichberechtigung von Mann und Frau!
Eine große Verantwortung liegt auf uns Frauen, in diesem Moment! Wir müssen uns auf diesen Wahltag gut vorbereiten! Das aktive Wahlrecht, das bei der zweiten Gründungsversammlung erreicht wurde, verpflichtet uns, weist uns die Pflicht zu, unsere Handlungen sehr gut zu bedenken.
[…]
Wir dürfen es nicht erlauben, dass in der Gründungsversammlung, der Versammlung, in der unser konstitutionelles Leben geschaffen wird – neue Gesetze gegen die Gleichberechtigung verabschiedet werden.
Wir müssen verstehen und im Voraus deklarieren: Im Fall, dass die Gründungsversammlung ohne unsere aktive und auch passive Teilhabe stattfinden wird – wird sie illegal sein, da sie nur die Vertretung von weniger als der Hälfte des Jeschuw sein wird.
Das Recht ist mit uns – und in ihm ist die Macht!
Die hebräische Frau wird nicht bloß eine Statue der Befreiung in den Händen von Künstlern sein, sondern ein Symbol ihrer eigenen Befreiung.13
Aus: Ada Fischmann: Heft A, An die hebräische Frau, Dezember 1918, herausgegeben vom „Frauenverband“ Jaffa.
Übersetzung: Shmuel Vardi
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Schechina: Wohnstatt Gottes, oder Gottes Geist. ↩
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Abgeänderte häufig in der zionistischen Frauenbewegung zitierte Frage aus einem Gedicht von Jehuda Leib Gordon, eigentlich: “Hebräerin, wer wird dein Leben kennen?” Im Original „Kozo Shel Jod“. Für die Spitze des Buchstaben Jod. Bedeutet: wegen kein bisschen. Etwa wie im Idiom: nicht ein Iota. Erstveröffentlichung in der Zeitschrift HaSchachar, 1878 in Wien. ↩
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Man unterscheidet im Judentum zwischen Geboten, die „zwischen Mensch und Ort“ sind, und denen, die „zwischen Mensch und Freund“ gelten. „Ort“ bedeutet in diesem Sinne Gott. Solche Gebote regeln die Verhältnisse des Menschen zu Gott, während die Gebote zwischen Mensch und Freund die Verhältnisse unter den Menschen regeln. ↩
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Paraphrase von der jüdischen Ausdrucksweise „Thora und gute Taten“ ת] םיבוט םישעמו הרו ] im Sinne von: Theorie und Praxis des moralischen Lebens. ↩
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Galuth: Jüdische Diaspora. ↩
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„Erweiterung der Grenzen“ ist auch ein Bezug auf die biblische Verheißung, einen Ort zu bekommen, im Sinne der entsprechenden Stelle 5. Buch Mose 19,8: “Und so der HERR, dein Gott, deine Grenzen erweitern wird, wie er deinen Vätern geschworen hat, und gibt dir alles Land, das er geredet hat, deinen Vätern zu geben.” ↩
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Historische Bezeichnung des südlichen Teils des Landes. Gemeint ist die Eroberung durch die Briten Ende 1917. ↩
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Adass Isroel = [עלארשי תד ]: israelitische Gemeinde, orthodoxer Kreis. ↩
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Genesis 3, 17 – Lutherbibel 1912. ↩
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Genesis 3, 19 – Lutherbibel 1912. ↩
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HaMisrachi = HaMisrahi (heb. היחרזמ , ein Akronym von Merkaz Ruhani, „Religiöses Zentrum“): religiös-zionistische Bewegung, wurde 1902 in Vilnius gegründet. In Palästina war sie eine der Gründungsparteien der Nationalreligiösen. ↩
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Fischmann Maimon macht diese orthodoxen Kreise zum Gespött, indem sie sagt: Diese seien erst dann zu Zionisten geworden, nachdem es klar geworden sei, dass das zionistische Vorhaben erfolgreich sein würde. ↩
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Diese Übersetzung wurde 2016 angefertigt, die Rechte an der Übersetzung liegen bei Shmuel Vardi. ↩