Katharina Lux

„Es liegt nicht in unserem Interesse, Erfahrungen in eine vorgefaßte Theorie einzupassen …“

Erfahrung und feministisches Bewusstsein in der autonomen Frauenbewegung der 1970er-Jahre

Der Aufsatz ist eine stark überarbeitete Fassung meines Aufsatzes „Selbsterfahrung und Kritik – Zur Geschichte feministischen Bewusstseins in der autonomen Frauenbewegung der 1970er-Jahre“, der im Frühjahr 2019 im Sammelband „Gender*Wissen als Dimension des Pädagogischen“, herausgegeben von Dayana Lau und Klemens Ketelhut, erscheinen wird.

Prolog

In der Ankündigung für einen Vortrag schreibe ich: „Von sich selbst und den eigenen Erfahrungen auszugehen, scheint bis heute Grundlage feministischer Theorie und Praxis zu sein.“ Die Veranstalterinnen korrigieren und schreiben: „Von sich selbst und den eigenen Erfahrungen auszugehen, ist bis heute Grundlage feministischer Theorie und Praxis.“ Darüber scheint Konsens zu herrschen.

Sicher hat der Bezug auf Erfahrung in der Geschichte der Frauenbewegung unterschiedliche Funktionen erfüllt: den Zugang zur Lebenswelt hergestellt und deren Relevanz für eine linke, sozialistische Praxis untermauert, das Fundament für die Kritik des Politikverständnisses der Linken abgegeben und die androzentrische Ordnung des Wissens zum Wanken gebracht. Heute tritt Erfahrung in vielen feministischen Diskussionen als Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrung oder als Betroffenheit auf. Sie soll einen prädestinierten Zugang zu einem bestimmten Wissen absichern, das nur durch diese spezifische Erfahrung erworben werden kann. Sie legitimiert zum Sprechen über dieses bestimmte Wissen.

Bei meinen Streifzügen durch die feministische Zeitschrift Die Schwarze Botin, die zwischen 1976 und 1987 erschienen ist, stoße ich auf Bemerkungen, die sich ablehnend auf die autonome Frauenbewegung und auf eine für sie charakteristische Praxis beziehen: auf die Praxis der Selbsterfahrungsgruppen. Die Herausgeberin der Zeitschrift, Brigitte Classen, bezeichnet im Rückblick auf fünfzehn Jahre autonome Frauenbewegung die Selbsterfahrungsgruppen als „Selbsterfahrungsgruppen zur Sanierung der Psyche“1 und schon im Vorwort der ersten Ausgabe aus dem Jahr 1976 ist zu lesen:

„So macht das Verlangen nach Selbsterfahrung und Selbstbestätigung das Selbst immer unsichtbarer, frau läßt sich getrost Gedanken kommen, ohne sich welche zu machen: die neuentdeckten Sinne (Neue Zärtlichkeit, Eigenkörperlichkeit u.s.w.) sollen für das Denken sorgen, sorgen aber nur für sich selbst. Damit ist garantiert, daß die ,Neuen Erfahrungen‘ gar nicht erst gemacht werden können, oder immer wieder nur die alten gemacht werden.“2

Und in der siebten Ausgabe aus dem Jahr 1978 schreibt die Journalistin Gabriele Goettle:

„Es ist leicht, auf der Suche nach Identität in die Frauenbewegung zu geraten, noch leichter, solche dort zu finden in der Subjektivität gemeinschaftlicher Leidenserfahrungen. Was weniger leicht, ist offenbar der Schritt von der Erfahrung zur Veränderung von Erfahrungswirklichkeit. Es wäre wichtig, die scheinbare Vorgegebenheit von Identität zu analysieren, umso mehr, wenn sie sich als neues Verhaltensklischee innerhalb der Frauenbewegung einnistet.“3

Die in der Kritik implizierte – unterstellte? – Fixierung auf und von Identität und die Thematisierung des eigenen Verhaltens kommen mir allzu bekannt und allzu aktuell vor. Ist die Selbsterfahrungspraxis die historische Vorläuferin der feministischen Praxis, die heute in Erfahrung einen unhinterfragbaren Zugang zu Wissen sieht? Ich mache mich auf den Weg zu den Quellen aus der Hochzeit der westdeutschen autonomen Frauenbewegung. Wie zu erwarten war, finde ich weder genau das, was ich suche, noch waren die Konzepte der Selbsterfahrung so homogen, wie sie in der Kritik erscheinen. Ich werde am Ende meiner Überlegungen auf die Frage keine eindeutige Antwort geben können. Andere Fragen werden wichtig und Schwerpunkte verschieben sich. Der vermutete Zusammenhang zwischen dem Heute und dem Gestern wird während der Lektüre der Quellen zum losen Rahmen, zusammengehalten durch Ähnlichkeiten und Assoziationen.

Die Entstehung feministischen Bewusstseins

Die Frauenbewegung in Westdeutschland entstand im Zuge der Bewegung von 1968, als sich einige Frauen aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zusammenschlossen, um Lösungen für das geteilte Problem zu finden, die Betreuung ihrer Kinder mit ihrer politischen und theoretischen Arbeit im SDS zu vereinbaren.4 Im Laufe der 1970er-Jahre vergrößerte sich die Frauenbewegung schnell und organisierte sich zunehmend autonom von linken Gruppen, da weder deren Praxis noch deren Theorien befriedigende Antworten auf die Fragen und Probleme der Frauen boten. Über die Entstehungsgründe der Freiburger Frauengruppe heißt es im Frauenjahrbuch ’75:

„Wir sind im Oktober 1972 aus einer linken Gruppe an der PH (pädagogische Hochschule, K.L.) herausgegangen, und zwar aus folgenden Gründen: — weil wir meinten, daß man nur wirklich politisch aktiv werden kann, wenn man von selbst erlebten Unterdrückungssituationen ausgeht und von den eigenen Bedürfnissen; — weil wir in einer Organisation arbeiten wollten, die nicht die alten Autoritätsstrukturen wiederholt; — weil wir allmählich kapierten, daß die Trennung von Persönlichem und Politischem sich direkt als Frauenunterdrückung auswirkte und zwar sowohl in der Gruppe als auch privat.“5

Die Politisierung des Persönlichen, die Etablierung nicht-hierarchischer Strukturen und das Prinzip, von sich selbst auszugehen, wurden zu Grundpfeilern einer feministischen Politik, die sich als Gegenentwurf zu einer linken Praxis versteht, wie sie dem SDS vorgeworfen worden war.

Die Selbsterfahrungsgruppen teilten diese von den Frauen aus der Frauengruppe Freiburg zusammengefassten Prinzipien einer feministischen Praxis. Von Anfang bis Mitte der 1970er Jahre wurden einige Artikel zu dieser Organisationsform veröffentlicht, wie der eben zitierte Text Kleingruppen – Erfahrungen und Regeln aus der Frauengruppe Freiburg. Um ein Bild zu bekommen, welche Vorstellungen von Selbsterfahrung in der autonomen Frauenbewegung herrschten, werde ich zusätzlich einen Blick in die Artikel Bewußtseinsveränderung durch Emanzipations-Gesprächsgruppen der Psychologin Angelika Wagner aus dem Jahr 1973 und in Free-Space. A Perspective on the Small Group in Women’s Liberation der US-amerikanischen Feministin Pamela Allen, der 1972 ins Deutsche übersetzt und in Ausschnitten unter dem Titel Der Freiraum vom Arbeitskollektiv der Sozialistischen Frauen Frankfurt im Sammelband Frauen gemeinsam sind stark! Texte und Materialien des Women’s Liberation Movement in den USA herausgegeben wurde, werfen. Sie alle vereint die Ansicht, dass „jede Frauenbewegung, die auf eine Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse abzielt, zunächst eine Bewußtseinsveränderung“ voraussetze.6

Die Politisierung des Persönlichen, die Etablierung nicht-hierarchischer Strukturen und das Prinzip, von sich selbst auszugehen, wurden zu Grundpfeilern einer feministischen Politik, die sich als Gegenentwurf zu einer linken Praxis versteht, wie sie dem SDS vorgeworfen worden war.

Die drei Texte handeln von der Praxis der Selbsterfahrung – die Freiburger Autorinnen und Pamela Allen reflektieren ihre eigenen Erfahrungen in ihren Selbsterfahrungsgruppen. Während für sie – allerdings in unterschiedlicher Weise – Selbsterfahrung zum Katalysator des feministischen Bewusstseins wird, stellt diese Praxis für die Autorinnen der Zeitschrift Die Schwarze Botin, auf die ich mich eingangs bezogen habe, ein Hindernis für Politik und Theoriebildung der Frauenbewegung dar. Aber auch ihr scheint es um ein feministisches Bewusstsein zu tun zu sein, wenn es im Vorwort der ersten Ausgabe heißt: „Diejenigen, welche meinen, daß die schwarze Botin ohne Widersprüche sein müsse […], müssen alte Lese- und Denkkategorien abstreifen.“7 Ebenso spielt Erfahrung eine Rolle in einigen Beiträgen der Zeitschrift – wenn auch eine andere.

Von sich selbst ausgehen – Die Praxis der Selbsterfahrung

Die Selbsterfahrungsgruppen, die sich Anfang der 1970er Jahre in der autonomen Frauenbewegung verbreiteten, fanden ihr Vorbild in den US-amerikanischen Consciousness-Raising Groups, die sich im Laufe der 1960er Jahre im Zuge des Women’s Liberation Movements gegründet hatten. In den Gruppen trafen sich Frauen – in der Bundesrepublik hauptsächlich aus der gut ausgebildeten Mittelschicht –, um über Themen aus ihrem Leben zu sprechen, beispielsweise Kindheit und Familie, Sexualität, das Verhältnis zum eigenen Körper, die Beziehungen zu anderen Frauen und die Beziehungen zu Männern.8 Die Aufsätze von Pamela Allen, Angelika Wagner und der Freiburger Frauengruppe verstehen sich sowohl als Reflexion der Praxis der Selbsterfahrung, ihrer Mittel und Ziele, ebenso wie als Anregung und Anleitung zur Gründung von Selbsterfahrungsgruppen. Gemeinsam ist den Texten neben der Zielsetzung – der Bewusstseinsveränderung – der Ausgangspunkt des Gruppengesprächs. Es gehe zunächst darum, so die Autorinnen, sich über Gefühle auszutauschen, welche die Frauen bezogen auf ihr Leben wie auch bezogen auf die Gruppe empfinden. Den Erzählungen der anderen sollen Berichte aus der eigenen Biographie hinzugefügt werden, wodurch die Frauen die Erfahrung machen, dass andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie sie. Der gesellschaftliche Ursprung der persönlichen, scheinbar im eigenen Unvermögen begründeten Probleme könne so sichtbar werden. Die Erhellung der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Frauen leben, ebenso wie der „Gründe und Ursachen der Frauenunterdrückung“ (Allen) ist das erklärte Ziel aller drei Texte. Die Gruppe biete einen Ort, an dem Frauen miteinander in Kontakt treten können. Dadurch werde die Isolation der einzelnen, die durch die Kleinfamilien, Lohnarbeit und die Fokussierung auf einen Ehemann oder Freund zustande komme, aufgebrochen.
Jenseits dieser allgemeinen Gemeinsamkeiten weisen die Beschreibungen der Selbsterfahrung als Mittel zur Entstehung eines feministischen Bewusstseins bei Pamela Allen einerseits, Angelika Wagner und den Frauen aus der Frauengruppe Freiburg andererseits Unterschiede auf, die folgenreiche Konsequenzen haben.

Persönliches und Gemeinsames

Die Texte von Angelika Wagner und der Frauen der Frauengruppe Freiburg ähneln sich in ihrem Verständnis von Erfahrung und Bewusstsein. In der Gewichtung der persönlichen Erfahrung sieht Wagner den Vorteil der „Frauengesprächsgruppe“ gegenüber „herkömmlichen Diskussionsgruppen“:

„Erfahrungsberichte machen einen großen Teil des Gesprächs aus und werden dann anschließend gemeinsam diskutiert. Gegenüber einer theoretischen Analyse hat dieses Vorgehen zweierlei Vorteile. Erstens bleibt ,Emanzipation‘ für die Teilnehmer kein theoretisches Problem, losgelöst von ihrem persönlichen Leben, sondern ihre vielfältigen Bezüge zum eigenen Denken und Handeln werden sichtbar. Zweitens wird vermieden, daß die Mehrzahl aller Frauen, die die Sprache der Theoretiker nicht verstehen, sich wiederum minderwertig vorkommen und ausgeschlossen bleiben.“9

Theorie auf der einen, Erfahrungen des persönlichen Lebens, eigenes Denken und Handeln auf der anderen Seite werden hier tendenziell in einen Gegensatz gebracht.
Auch für die Frauen aus der Frauengruppe Freiburg liegen Sinn und Ziel der Selbsterfahrungsgruppe darin, ein Bewusstsein über die eigenen, persönlichen Erfahrungen zu erlangen. „Unsere persönlichen Erfahrungen“, so die Freiburger Autorinnen, „können nur dann bewußt werden, wenn wir sie frei aussprechen“. Der Charakter dieser Erfahrungen ist den Freiburgerinnen zufolge persönlich und ihre Geltung subjektiv verbürgt: „Erfahrungen sind für die, die sie macht, immer wahr.“10
Die Freiburger Frauengruppe zeichnet nun die Schritte nach, die Wagner für ihre Politik der Subjektivität auf dem Weg zur Bewusstseinsveränderung vorschlägt. Die Gruppe zieht die Konsequenz aus der Trennung von Erfahrung und Theorie und schreibt:

„Nicht ,man‘, sondern ,ich‘ sagen. Verallgemeinerungen machen das Gespräch unpersönlich. Sie stoßen diejenigen, auf die sie nicht zutreffen, vor den Kopf. Hinter den meisten Verallgemeinerungen stehen persönliche Erfahrungen.“11

Dass das Gespräch einen persönlichen Charakter behalten soll, hat weitreichende Konsequenzen:

„Es ist wichtig, daß wir lernen, aufeinander einzugehen und unsere Erfahrungen als Frauen nicht zu kritisieren. Erst wenn wir uns wohlfühlen miteinander, wenn wir keine Angst mehr haben offen zu sein, ist Kritik an unserem Verhalten nicht mehr niederschmetternd, sondern kann uns helfen, uns zu verändern.“12

Da das Ziel die Bewusstwerdung der persönlichen Erfahrung ist und Erfahrungen als unmittelbare Erlebnisse begriffen werden, verbitten sich die Frauen Kritik an den eigenen Erfahrungsberichten. Denn Kritik am persönlichen Verhalten ist durchaus nicht immer leicht zu ertragen. Auffallend ist, dass Kritik hier ausschließlich als Kritik am Individuum und seinem Verhalten verstanden und als gefährlich und bedrohlich wahrgenommen wird. Damit verschieben die Autorinnen die Möglichkeit von Kritik an einen Ort, der nicht mehr klar fassbar ist: Erst dann, wenn die Kleingruppe zu einem angstfreien Raum geworden sei und sich alle wohlfühlten, sei Kritik „an unserem Verhalten nicht mehr niederschmetternd“. Wann aber fühlen sich alle wohl in einer Gruppe? Nicht zuletzt würde sich, auch wenn sich alle wohl fühlten, noch immer die Frage stellen, wohin die Kritik an „unserem Verhalten“, am individuellen Verhalten der Frauen führen soll. Ich möchte nicht den Zusammenhang von Bewusstsein und Verhalten und die Notwendigkeit der Reflexion eigenen Verhaltens in Frage stellen. Zu bedenken ist aber, dass bei einer Vereinseitigung auf die Veränderung des Verhaltens diejenigen Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, die nicht in den Umkreis und den Wirkungsbereich des eigenen Verhaltens fallen, aus dem Feld feministischen Bewusstseins und der Kritik verschwinden.
Diese Tendenz zur Vereinseitigung wird noch verstärkt durch das Beharren darauf, dass es um die „Erfahrungen von Frauen“ gehe, weshalb „andere Themen vermieden werden“ sollten.13 Was aber gehört zu den Erfahrungen, die man als Frau macht? Können bestimmte Erfahrungen eindeutig dem Frausein zugeordnet wer- den? Was gehört zum Frausein und was nicht? Wenn nur über die Erfahrung, eine Frau zu sein, gesprochen werden soll, stellt sich die Frage, was die Identität Frau bedeutet und was nicht. Was ist mit den Erfahrungen, die aufgrund der Klassenzugehörigkeit oder aufgrund ethnischer und rassistischer Trennungen gemacht werden?
Beide Texte, Kleingruppen – Erfahrungen und Regeln ebenso wie Bewußtseinsveränderung durch Emanzipations-Gesprächsgruppen, enthalten deutliche Vorstellungen davon, was diese gemeinsame „Erfahrung von Frauen“ ist, und sie setzen die Leserin in Kenntnis darüber, worin die Gemeinsamkeit bestehe:

„Wichtig ist, daß die Gespräche in den Kleingruppen uns zeigen, wie und in welchem Ausmaß wir unter den vorgegebenen Rollen leiden, daß wir Angst haben, uns gegen die Rollenzwänge aufzulehnen. Daß es aber für uns genauso schlimm ist, wenn wir sie einfach hinnehmen. Dadurch, daß wir unsere Erfahrungen austauschen, fühlen wir uns nicht mehr allein.“14

Der Text der Freiburger Autorinnen nimmt hier das Ergebnis des Erkenntnisprozesses vorweg. Auch in Wagners Artikel erwecken manche Stellen den Anschein, dass das Wissen, welches durch das Gruppengespräch generiert werden soll, schon vorausgesetzt ist. Die Autorin stellt eine Liste von Fragen auf, die zur Erleichterung der Gespräche dienen soll. Der suggestive Charakter einiger der Fragen – wie beispielsweise „Wie oft können wir unsere Gefühle ehrlich zugeben?“, „Mit welchem Teil unseres Körpers sind wir unzufrieden?“ oder „Was sind unsere Ängste, nicht liebenswert, nicht geliebt zu sein?“15 – lassen kaum zweifeln, dass der Inhalt des Wissens schon gesetzt ist und nur mehr seine Bestätigung erwartet wird. Der Erkenntnisprozess gerät in Gefahr, stillgestellt zu werden. Die Freiburger Frauengruppe formuliert ein paradoxes Sollen: Die Gespräche sollen zeigen, dass allen Teilnehmerinnen das Leid an der Frauenrolle gemeinsam ist. Im Wissen um die Gemeinsamkeit besteht das feministische Bewusstsein. Zugleich aber soll das Leiden an dieser Rolle persönlich sein. Das Gemeinsame kann dann nur im Persönlichen bestehen. Das aber hätte zur Konsequenz, dass die Frauen tatsächlich gleich sein und gleich empfinden müssten. Das Persönliche wäre unmittelbar das Gemeinsame und das Gemeinsame unmittelbar das Persönliche.16 Unklar bleibt, wie der Schritt von der Feststellung dieses paradoxen Gemeinsam-Persönlichen zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedingungen der Lage der Frauen vollzogen werden soll. Der Anspruch, gerade die Bedingungen zu erhellen, bleibt uneingelöst.

Intellektuelle Erfahrung

Der erste augenfällige Unterschied der Konzeptionen der Freiburger Autorinnen und von Angelika Wagner zum Text von Pamela Allen liegt in deren Verständnis davon, was Erfahrung ist, und in der Gewichtung derselben innerhalb der Gesprächsgruppe. Programmatisch schreibt Allen:

„Es liegt nicht in unserem Interesse, Erfahrungen in eine vorgefaßte Theorie einzupassen, besonders dann nicht, wenn sie von Männern erdacht ist. Nicht nur, weil wir alles männliche Denken der Frauenverachtung verdächtigen müssen, sondern auch, weil wir lernen müssen, unabhängig zu denken. Unser Denken muß aus unseren Fragen erwachsen, wenn es unser eigenes sein soll, und weil wir ein Instrumentarium brauchen, mit Hilfe dessen wir neue Erfahrungen objektiv betrachten und korrekt analysieren können.“17

Auf dem Weg zur objektiven Analyse der Erfahrung sollen die Gesprächspartnerinnen von ihren unmittelbaren Erlebnissen abstrahieren. Allen schreibt über diesen Schritt:

„Diese Periode ist wichtig, weil wir in ihr beginnen, über unsere persönlichen Erfahrungen hinauszugehen. Nachdem wir durch den Prozeß des Teilens eine Perspektive für unser Leben gewonnen haben, beginnen wir nun, die beschissene Lage der Frau mit mehr Objektivität zu betrachten.“18

Das ist die exakte Umkehrung des Wegs, den die Freiburger Autorinnen vorschlagen. Sie hatten Abstraktion, Verallgemeinerung und Distanzierung von der eigenen Erfahrung vermeiden wollen. Pamela Allen versteht den Prozess der Selbsterfahrung hingegen als Weg gemeinsamer Theoriebildung. Dazu ist es nötig, Wissen über die Gesellschaft heranzuziehen:

„Die Komplexität der Frauensituation erzwingt, daß wir Informationen, die außerhalb unserer individuellen Erfahrung liegen, in unsere Analyse der Frauenunterdrückung einbeziehen. Das ist der Punkt, an dem sich die Frage des Funktionierens der Gesamtgesellschaft stellt. Das ist auch der Punkt, an dem Bücher und anderes Material wichtig werden.“19

Es ist das Werkzeug Theorie, das Erfahrung bewusst werden lässt, sinnfällig macht und zur Darstellung bringt. Der Prozess der Theoretisierung bedeutet eine Objektivierung der Erfahrung, die diese nicht unberührt lässt. Kann sie zunächst als persönliche aufgefasst werden, so wird sie im Verlauf der gemeinsamen Analyse diesen Charakter verlieren. Das Allgemeine an ihr wird begreifbar.
Die gemeinsame Theoriebildung ist zugleich die Erfahrung intellektueller Tätigkeit, durch die sich die Frauen die gesellschaftliche Wirklichkeit gedanklich aneignen. Die Autorin schreibt:

„Die Erfahrung der Abstraktion sehen wir als die intensivste Form des ,Freiraums‘ an. Wir beginnen erst jetzt, im Prozeß des Abstrahierens diesen Freiraum zu erfahren, nachdem wir ein Jahr lang uns selbst dargestellt, unsere Erfahrungen geteilt und analysiert haben.“20

Erfahrung ist mehrschichtig: als Erfahrung des persönlichen Lebens ist sie Ausgangspunkt des Gesprächs; im Verlauf der Analyse wird sie konkretisiert, indem die gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse erkennbar werden, in denen die persönlichen Erfahrungen gemacht werden;21 als Erfahrung der kollektiven intellektuellen Aneignung der Welt überschreitet sie die bisherigen Erfahrungen. Die intellektuelle Erfahrung ist die Bereicherung der Individualität.
Ein zweiter gewichtiger Unterschied liegt im Verständnis von Bewusstsein, das sich aus Allens Text herauslesen lässt. Im Verlauf des kollektiven Prozesses begännen die Frauen „eine Utopie (und bis zu einem gewissen Grade auch Erfahrungen)“ ihres „menschlichen Potentials zu entwickeln“. Das bedeute gerade nicht, dass Frauen „wie Männer werden“ sollten: „Vielmehr werden wir zu dem Verständnis gelangen, was wir sein könnten, wenn wir befreit wären von gesellschaftlicher Unterdrückung.“22 Die Entwicklung von individuellem Selbstbewusstsein entwirft Allen bemerkenswerterweise in die Zukunft hinein, als Bewusstsein von Möglichkeiten, von dem, was noch nicht ist.
Zu dieser Bestimmung eines individuellen Selbstbewusstseins tritt eine weitere Bedeutungsebene hinzu. So setzt die Autorin fort:

„Wir entwickeln Vorstellungen darüber, wie die Frauenbewegung beschaffen sein muß, damit sie die Institutionen, die Frauen unterdrücken, abschaffen kann. Konkret haben wir begonnen, ein Verständnis der Funktionen zu entwickeln, die die kleine Gruppe in dieser sozialen Revolution spielen kann, und auch ein Verständnis dessen, was sie nicht leisten kann.“23

Es geht demnach nicht nur um das Bewusstsein individueller Möglichkeiten. Vielmehr entwickelt die Gesprächsgruppe ein Bewusstsein der Frauenbewegung als politische Kraft, die Teil gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse ist. Selbstbewusstsein, so lässt sich Allen verstehen, bezieht sich zugleich auf das Selbstbewusstsein des Individuums wie auf das Bewusstsein der eigenen politischen Wirkmächtigkeit als Frauenbewegung im Rahmen der sozialen Revolution. Das feministische Bewusstsein ist ein Bewusstsein des eigenen Subjektseins, das im eben beschriebenen Prozess der Erfahrung gründet.
Trotz der Unterschiede beziehen sich die drei Texte auf die Praxis der Selbsterfahrung.24 Ganz anders verfährt die Zeitschrift Die Schwarze Botin auf ihrem Weg feministischer Bewusstseinsbildung.9

Kritik durch Darstellung

Die Schwarze Botin wurde von der Historikerin Brigitte Classen und der Journalistin und Schriftstellerin Gabriele Goettle in Berlin gegründet und erschien zwischen 1976 und 1987 in einer Auflage von 3.000 bis 5.000 Exemplaren. Die Beiträge der Zeitschrift lassen keinen Zweifel daran, dass sie der Kritik gewidmet sind – der Kri- tik der Gesellschaft, der Philosophie, Literatur, Kunst und Wissenschaft wie auch der Kritik der Theorie und Praxis der autonomen Frauenbewegung. Die Schwarze Botin entwickelt ihre Position in Abgrenzung zu dem Bild, das sie sich von der Frauenbewegung macht. Statt zu differenzieren, spitzt sie Tendenzen, die in der Frauenbewegung vorhanden waren, zu.
Die Schwarze Botin versucht einen anderen Weg feministischer Bewusstseinsbildung zu gehen. Suchten die Frauen aus der Frauengruppe Freiburg in ihren Gesprächen nach persönlichen Erfahrungen, die zugleich das Gemeinsame sein sollten, so verhandeln die Autorinnen der Schwarzen Botin Erfahrungen des Alltagslebens, ebenso wie sexuelle und körperliche, explizit in vermittelter Form. Das werde ich im Folgenden anhand des Textes Eine Versammlung von Elfriede Jelinek aus der zweiten Ausgabe der Schwarzen Botin von 1977 zeigen, in dem Erfahrung als ästhetisches Problem thematisch wird.
Jelineks Text ist ein Bericht zum Autorinnen- und Schriftstellerinnentreffen, das im November 1976 unter dem Titel Schreib das auf, Frau! in Berlin stattgefunden hatte. Mit spitzer Feder kommentiert sie die Diskussion auf dem Treffen und beginnt ihren Kommentar mit dem Satz:

„Ich werde jetzt immer ICH sagen, wenn ich ICH meine. Auf der Versammlung hat man mir gesagt, das soll gut und ehrlich sein. Ein paar Frauen haben auch gestrickt.“25

Der Satz klingt wie eine Parodie der Formulierung der Freibur- ger Frauengruppe, die geschrieben hatte: „Nicht ,man‘ sondern ,ich‘ sagen.“ Neben Beschreibungen des Leidens von Frauen „mit bekannten Mitteln“ seien – so Jelinek – „Erlebnisschilderungen vom Alltag der Schriftstellerinnen, Gattinnen und Mütter (alles eine Person) sehr beliebt“ gewesen, ebenso wie „die Beschreibung von Schwangerschaftsnarben“. Weiter schreibt sie:

„Bejubelt wurde Margot Schroeder, die sagte, daß sie ihren Hängebusen liebt. Nicht bejubelt wurde Gisela Steinwachs, die in ihrem Beitrag eine Verbindung zog zwischen Marx, der Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt hat, zur Firestone, die Engels auf die Füße gestellt hat – vom Warencharakter von Arbeit, von der Aneignung menschlicher Arbeitskraft (und der Menschen selber) bis hin zum Warencharakter des weiblichen Geschlechts und seinen Aneignungen durch die Männer als Drehmoment der Gesellschaft. Bejubelt wurde Margot Schroeder, als sie sagte, daß sie ihre Krampfadern liebt.“26

In der Gegenüberstellung dessen, was von den Teilnehmerinnen „bejubelt“ und dessen, was abgelehnt worden sei, spitzt Jelineks Text den bekannten Dualismus von Geist und Natur derart schroff zu, dass sein ideologischer Charakter zu Tage tritt. Gegenübergestellt werden auf der einen Seite Vorstellungen und Beschreibungen des weiblichen Körpers, wie er unmittelbar gegeben zu sein scheint, und auf der anderen Auffassungen von Theorie. Diese sei als „phallokratisch“, „abstrakt“, „unhübsch und brutal“ verunglimpft worden. Die Kontrastierung lässt die Vorstellung, der weibliche Körper ebenso wie das alltägliche Leben und seine direkten sozialen Beziehungen seien unmittelbar gegeben, fragwürdig werden. Jelineks Text entlarvt den Schein der Unmittelbarkeit. Er führt vor, wie die Vergeschlechtlichung des Dualismus Geist – Natur, welche die moderne Geschlechterordnung legitimiert, undurchschaut mitgeschleppt wird, wenn der weibliche Lebenszusammenhang als unmittelbar gegeben missverstanden wird.
Der Indikator dafür, dass die anderen Schriftstellerinnen den Schleier der Unmittelbarkeit, der Alltag, Körper, Mutterschaft und Ehe in der bürgerlichen Gesellschaft umgibt, nicht zerreißen, liegt Jelineks Ausführungen zufolge in ihrer Darstellungsweise. Die Frage der ästhetischen Darstellung ist für Jelinek keine beliebige oder harmlose. Vielmehr drückten sich in ihr Wirklichkeitsvorstellungen und Selbstbilder aus. Die Lösungsversuche, die auf dem Autorinnentreffen vorgeschlagen worden seien, missbilligt Jelinek. Zwei „Arten“ von Texten seien ihr auf dem Treffen vorgestellt worden, die einem von zwei Prinzipien folgten:

„1. Man sagt, wie es ist, aber möglichst so wie es immer wieder schon gesagt worden ist. Oder: 2. Man sagt, wie man dabei leidet (,Neue Larmoyanz‘). Am besten, man sagt gleich am Anfang, für welche Sorte man sich entscheiden möchte. Noch besser, man gibt gleich praktische Lebenshilfe, Verhaltensmaßregeln, Regeln für die Anwendbarkeit und Rezepte dazu.“27

Anwendbarkeit und Verhaltensregeln als Maßstab feministischer Literatur zu verstehen, setzt voraus, dass sich die Leserin mit dem Inhalt identifiziert, ihre Lebenssituation im Text wiederfindet und sich einfühlen kann. Was sich dieser Art Einfühlung und Identifikation verwehre, sei auf dem Schriftstellerinnentreffen „sehr unbeliebt“ gewesen, namentlich die Satire: „Sehr unbeliebt war die Satire, vermutlich, weil sie nicht-wie- du-den-Schmerz fühlen kann.“28 Jelineks Ablehnung dieser Identifikation der Rezipientin mit dem literarischen Inhalt beruht auf ihrer Kritik der Identifikation der Frauen miteinander qua Frausein. Die Identifikation führe zur Auflösung jeglichen ästhetischen Urteils und jeglicher Anerkennung für individuelle, künstlerische Leistungen. Gegen die Vorstellung, dass Frauen, weil sie Frauen sind, die gleichen Erfahrungen machen, die sie mit den gleichen sprachlichen Mitteln in der gleichen Weise ausdrücken, polemisiert Jelinek: „Was von einer Frau kommt, ist sowieso gut, wenn Frau einem dabei ständig sagt, daß sie eine solche ist und daher leidet.“29
Jelineks Bericht stellt infrage, dass man einfach so sagen kann, „wie es ist“, so als sei das, was ist, ebenso einfach und unvermittelt da, wie die literarischen Darstellungsformen gegeben seien.
Was schlägt sie selbst vor? Weder von „realitätsgetreuer Abbildung“ noch von Rezepten und Anwendungstipps ist sie überzeugt. Sie misstraut dem Schein der Unmittelbarkeit ebenso wie der ungebrochenen Identifikation. Sie wählt die Satire als Mittel, die sich der Einfühlung und Identifikation verweigert, und plädiert für „andere ästhetische Methoden, Ausbeutung erfahrbar zu machen“. Sie fügt hinzu: „Vielleicht sogar durch die Beugung der Wirklichkeit, was nicht deren Verfälschung bedeuten muß.“30 Die Beugung der Wirklichkeit erfordert Distanzierung und Abstraktion vom eigenen persönlichen Lebensumfeld, mithin das Gegenteil von Einfühlung in ein geteiltes Leiden. Jelinek vertraut nicht darauf, dass Ausbeutung unmittelbar erfahren wird. Sie stellt sich vielmehr die Frage, wie die Erfahrung von Ausbeutung dargestellt werden kann. Erfahrung erscheint hier nicht als Gegebenes, das naturalistisch abgebildet werden könnte. Vielmehr bedarf sie der Darstellung, um zur Erfahrung zu werden. Allerdings sind die literarischen Mittel der Darstellung keine harmlosen, schon gar nicht in einer androzentrischen Gesellschaft, die sich im Sprechen ebenso niederschlägt wie im Denken. Die Schwierigkeit ist umso größer, als dass der weibliche Lebenszusammenhang in der kapitalistischen androzentrischen Gesellschaft zum Hort der Unmittelbarkeit, Ungesellschaftlichkeit, Ungeschichtlichkeit – zur Natur wird. Elfriede Jelinek teilt mit den anderen Autorinnen der Schwarzen Botin das Misstrauen, dass eine scheinbar je schon gegebene, vorausgesetzte Erfahrung bloß ausgesprochen und abgebildet werden muss, um die Geschlechterordnung ins Wanken zu bringen. Sie legt nahe, dass die Ordnung verstetigt zu werden droht, wenn dem Schein der Unmittelbarkeit aufgesessen und der Zusammenhang von Gegenstand und Darstellung nicht aufgeklärt wird. Die Beschreibung von Hängebusen und Krampfadern, so tabubrecherisch sie auch auftreten, oder das Aufstellen von Verhaltensmaßregeln, so feministisch gemeint sie auch seien, würden so die Entwicklung eines feministischen Bewusstseins verfehlen.

Erfahrung im feministischen Bewusstsein

So unterschiedlich die Texte der Frauen aus der Frauengruppe Freiburg, von Angelika Wagner, Pamela Allen und Elfriede Jelinek auch sind, sie alle kreisen um die Frage der Erfahrung und ihrer Bedeutung im feministischen Bewusstsein. Die Freiburger Autorinnen stellen Erfahrung als etwas vor, was einfach gegeben und nur noch nicht gewusst wird, durch das Gruppengespräch hervortritt und zu Bewusstsein kommt. Pamela Allen hingegen bedient sich des Mittels der gemeinsamen Theoriebildung im Prozess der Bewusstseinsbildung, in dessen Verlauf Erfahrungen bewusst und in ihrer Gesellschaftlichkeit begriffen werden und zugleich die Fähigkeit zur gemeinsamen intellektuellen Tätigkeit erfahren wird. Elfriede Jelinek ebenso wie die kritischen Einwürfe aus der Zeitschrift Die Schwarze Botin gegen die Selbsterfahrungspraxis werfen die Frage auf, wie die Erfahrung derer dargestellt werden kann, die in der symbolischen Ordnung, der Kultur und der Wissensordnung der kapitalistischen androzentrischen Gesellschaft zu undifferenzierten, sprachlosen, geschichtslosen Exemplaren der stumm gemachten Natur wurden, wie eine Form für das Formlose gefunden werden kann. Auf diese Frage aber geben sie keine positive Antwort. Die Thematisierung der Geschichtlichkeit des scheinbar Ungeschichtlichen und die ästhetische Vermittlung dessen, was Statthalter des Unmittelbaren ist, muss hier ohne die Benennung auskommen, was das Unmittelbare ist oder worin eine weibliche Kulturgeschichte besteht. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Schwarze Botin ihr Metier in der Kritik der Literatur, der Philosophie und der Kunst findet – ein Feld, in dem das feministische Bewusstsein sich rein halten kann von der schmutzigen kollektiven Praxis der Selbsterfahrungsgruppen. Genau diese aber hatten die Autorinnen aus Freiburg und Pamela Allen im Sinn. In den Selbsterfahrungsgruppen entstanden Freundschaften, wer sich nicht getraut hatte zu sprechen, sprach, wer sich minderwertig gefühlt hatte, entwickelte Selbstvertrauen. Die Praxis der Selbsterfahrung war auch der Versuch, das Leben selbstbestimmt und kollektiv zu gestalten und Beziehungen zwischen Frauen zu knüpfen. Das ist nicht gering zu schätzen in einer Gesellschaft, deren Vergesellschaftungsform die Vereinzelung der Einzelnen, die Konkurrenz jeder gegen jede hervorbringt und als androzentrische die Beziehungen zwischen Frauen unterbinden muss.

Epilog

Es gibt keine politische Praxis, kein Theoriemodell und keine Darstellungsformen, die per se feministisch sind. Sich auf Erfahrung zu berufen als Drehpunkt der Theorie oder als Angelpunkt der Praxis, ist weder eine Spezifik der Frauenbewegung noch ein adäquates Mittel für jeden feministischen Kampf oder jederzeit der richtige Weg zum Ziel. Warum aber schien es vielen Feministinnen Mitte der 1970er-Jahre sinnvoll, der Erfahrung einen so großen Stellenwert einzuräumen? Und ist es heute noch sinnvoll?

Die autonome Frauenbewegung der 1970er- und 80er-Jahre ist eingelassen in einen Prozess der Neukonfiguration der Geschlechterverhältnisse, welcher von der tendenziellen Freisetzung der weiblichen Arbeitskraft in Westeuropa, der bevölkerungs- und biopolitischen Entwicklung der Reproduktionstechnologie und der sogenannten Bildungsexpansion der 1960er-Jahre bestimmt wird. Mit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1958 und der Eherechtsreform von 1977 wird in Westdeutschland das Verfügungsrecht des Ehemanns über die Arbeitskraft der Ehefrau beendet. Frauen – egal ob verheiratet oder nicht – haben nun die zweifelhafte Freiheit, selbst entscheiden zu können, ob sie lohnarbeiten gehen oder nicht. Sie werden tendenziell zu doppelt freien Lohnarbeiterinnen. Das Individuum aber, dessen Arbeitskraft die juristische und ökonomische Form der Ware annimmt, kann sich tendenziell universell bestimmen. Auch wenn im Falle von Frauen diese Tendenz von einer wirkmächtigen Gegentendenz begleitet wird, sie auf den Bereich der Reproduktionstätigkeiten verwiesen bleiben und weiterhin über diese Tätigkeiten bestimmt werden, so wird diese Geschlechterordnung dennoch brüchig.31 Diese Brüchigkeit wird verstärkt durch die reproduktionstechnologischen Veränderungen. Sie manifestiert sich in der Einführung der Antibaby-Pille Anfang der 1960er-Jahre und den Reformen der Paragraphen zum Schwangerschaftsabbruch in den 1970er-Jahren. Ihre gattungsgeschichtliche Wirkung ist enorm, denn sie löst die Verknüpfung von Frausein und Mutterschaft auf. Die größere juristische Anerkennung der Frau als Person und die Reproduktionstechnologie lösen tendenziell die scheinbar naturwüchsige Bestimmung der Frau als Mutter und Ehefrau mit dazugehörigen Tätigkeiten, Eigenschaften und Fähigkeiten auf.
Durch die Bildungsexpansion der 1950er- und 1960er-Jahre kommen immer mehr Frauen in den Genuss von qualifizierter Ausbildung und Universitätsabschlüssen. Jahrhundertelang war für Frauen die Entwicklung ihrer intellektuellen Fähigkeiten mit dem Verzicht auf ihre Sexualität einhergegangen.32 Intellektuelle Tätigkeiten für Frauen waren fast ausschließlich zölibatär im Kloster möglich. Historisch eröffnet sich im 20. Jahrhundert für die autonome Frauenbewegung tendenziell die Möglichkeit, diese Trennung zu überwinden.
Die drei Aspekte verweisen auf einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, der bis heute anhält: auf die Entnaturalisierung von bis dato naturwüchsigen Tätigkeiten und Beziehungen. Der weibliche Lebenszusammenhang und das Geschlechterverhältnis werden zunehmend zu einem gesellschaftlichen Verhältnis und radikal entnaturalisiert.

Die Schwierigkeit des Feminismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besteht darin, dass genau zu dem Zeitpunkt die Artikulation einer gemeinsamen weiblichen Erfahrung und einer gemeinsamen Identität Frau möglich wird, zu dem auch die Individualisierung der Frau jenseits ihres Geschlechtscharakters denkbar wird.

Diese Konstellation wirkte sich auf die Lebenswelt der Frauen aus. Für sie eröffneten sich Möglichkeitsspielräume, welche die Müttergeneration noch nicht gekannt hatte. Die gesellschaftlichen Erfahrungsmuster, die qua Sozialisation an die Töchter weitergegeben worden waren, passten nicht mehr zur Lebenswirklichkeit. Für die Frauen der Bewegung war immer weniger klar, dass man als Frau zwangsläufig heiraten, Kinder kriegen und für den Haushalt zuständig sein würde. Durch diesen Veränderungsprozess konnte die Zweite Frauenbewegung etwas thematisieren, was die Erste Frauenbewegung im 19. Jahrhundert in dieser Deutlichkeit noch nicht thematisiert hatte: Die Frau, die nicht_ für andere_ ist (Mutter, Ehefrau) sondern für sich. Allerdings bestand innerhalb der Frauenbewegung keine Einigkeit darüber, was Für-sich-Sein als Frau bedeutet, wie die Gegenüberstellung der Texte gezeigt hat. Für die Freiburger Autorinnen bedeutet Frausein, die gleichen Erfahrungen zu machen, was Jelinek wiederum ablehnt, und Allen skizziert den Prozess der politischen wie individuellen Subjektwerdung. Die Schwierigkeit des Feminismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besteht darin, dass genau zu dem Zeitpunkt die Artikulation einer gemeinsamen weiblichen Erfahrung und einer gemeinsamen_ Identität_ Frau möglich wird, zu dem auch die Individualisierung der Frau jenseits ihres Geschlechtscharakters denkbar wird. Diese Spannung begleitet noch heute – teilweise in etwas anderer Form – die feministische Auseinandersetzung. Damit bleiben auch die Schwierigkeiten, die mit der Frage der weiblichen Erfahrung verbunden sind, virulent.33

Das Gespräch der feministischen Kleingruppe der 1970er Jahre über Gefühle, Beziehungen, Körperlichkeit, Sexualität und den Alltag ist Imperativen gewichen, die unablässig fordern: „Kenne dich“, „Kenne deine Bedürfnisse“, „Kenne deine Fähigkeiten“, „Kenne deine Grenzen“ oder „Sei die Expertin deines Lebens“. Werbeblättchen versprechen den „Kurztrip zum Ich“ und raten, tunlichst achtsam zu sein.34 Die Selbstveränderung ist zur Selbstoptimierung der Ware Arbeitskraft geworden, die permanent gefordert wird. Erfahrung tritt als persönlicher Besitz auf und die Dynamik des Konsums der therapeutisierten und managementisierten Selbstentwürfe befördert diese Vorstellung.35 Sie ist ein Charakteristikum der Subjektivität der auf Privateigentum beruhenden kapitalistischen Gesellschaft. Privateigentum ist die Form der privaten Aneignung und Verfügung der gesellschaftlichen Arbeit und des Reichtums – und damit zugleich die Enteignung derer, die nur ihre Arbeitskraft haben. Womöglich spiegeln sich in der heute weit verbreiteten Vorstellung von Erfahrung als Betroffenheit die Enteignung und das Gefühl der Machtlosigkeit: Betroffen ist man von überwältigenden äußeren Kräften, auf die Einfluss zu nehmen man kaum die Macht zu haben scheint.36
Erfahrung, so schreibt die Historikerin Ute Daniel, ist nicht nur eine Aneinanderreihung einzelner Erlebnisse. Diese werden vielmehr eingelassen in und verdichtet zu Deutungen, die Menschen von sich, ihrem Leben und der Gesellschaft, in der sie leben, entwickeln. Ähnlich wie das Privateigentum, das tatsächlich auf gesellschaftlicher Arbeit beruht, ist auch Erfahrung – so persönlich sie sein mag – eingelassen in den gesellschaftlichen Deutungsprozess.37 Zwar können Erfahrungen nicht außerhalb und Deutungen nicht jenseits des Horizonts der kapitalistischen Gesellschaft gemacht werden und entstehen. Dennoch sind sie nicht völlig determiniert. Genau das zeigt sich am Beispiel der Frauenbewegung (und nicht nur dieser). Die Selbsterfahrungspraxis der Frauenbewegung entstand nicht nur innerhalb einer Bewegung, die den Anspruch erhob, alle gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen. Indem sie sich gemeinsam organisierten, war die Frauenbewegung die Bedingung für und der Ort, an dem Frauen die Erfahrung machten, dass sie zum Subjekt werden können, das über das eigene Leben, die Geschichte und über den gesellschaftlichen Reichtum an Lebenszeit und Lebensmitteln bestimmt.

Womöglich käme es darauf an, die Gesellschaftlichkeit der Erfahrungen zu reflektieren und kollektive Erfahrungen zu machen. Die in den letzten Jahren wieder aufgeflammten feministischen Kämpfe werden das vielleicht ermöglichen.


LITERATUR

Allen, Pamela: Der Freiraum. In: Arbeitskollektiv der Sozialistischen Frauen Frankfurt (Hrsg.): Frauen gemeinsam sind stark! Texte und Materialien des Women’s Liberation Movement in den USA. Frankfurt a. M. 1972. S. 63-69.
Anonym: Schleim oder Nichtschleim, das ist hier die Frage. Anstelle eines Vorworts. In: Die Schwarze Botin 1. 1976 S. 4-5.
Classen, Brigitte/Ruge, Uta: Wünsche nach Kraft durch Freude. Ein Gespräch. In: Die Schwarze Botin 19. 1983. S. 54 – 60.
Dackweiler, Regina: Ausgegrenzt und eingemeindet. Die neue Frauenbewegung im Blick der Sozialwissenschaften. Münster 1995.
Frauen aus der Frauengruppe Freiburg: Kleingruppen – Erfahrungen und Regeln. In: Frankfurter Frauen (Hrsg.): Frauenjahrbuch ’75. Frankfurt a. M. 1975. S. 184-198.
Goettle, Gabriele: Gedanken über mögliche Formen feministischer Anarchie. In: Die Schwarze Botin 7. 1978. S. 31-34.
Jelinek, Elfriede: Eine Versammlung. In: Die Schwarze Botin 2. 1977. S. 30-31.
Kätzel, Ute: Die 1968erinnen. Porträts einer rebellischen Frauengeneration. Berlin 2002.
Neuhauss, Maria-Elisabeth: Probleme des sozialistischen Feminismus vom Aktionsrat zum sozialistischen Frauenbund. In: outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik 5. Leipzig 2015. S. 55-59.
Wagner, Angelika: Bewußtseinsveränderung durch Emanzipations-Gesprächsgruppen. In: Schmidt, Hans Dieter et.al. (Hrsg.): Frauenfeindlichkeit. Sozialpsychologische Aspekte der Misogynie. München 1973. S. 43-159.


Katharina Lux forscht zur Geschichte der Frauenbewegung und der feministischen Theorie. Die Erfahrungen in und mit der Redaktion der outside the box bedeuten ihr sehr viel.


  1. Classen, Brigitte/Ruge, Uta: Wünsche nach Kraft durch Freude. Ein Gespräch. In: Die Schwarze Botin 19, 1983, S. 59. 

  2. Anonym: Schleim oder Nichtschleim, das ist hier die Frage. An Stelle eines Vorwortes. In: Die Schwarze Botin 1, 1976, S. 4. 

  3. Goettle, Gabriele: Gedanken über mögliche Formen feministischer Anarchie. In: Die Schwarze Botin 7, 1978, S. 31. 

  4. Vgl. Neuhauss, Maria-Elisabeth: Probleme des sozialistischen Feminismus vom Aktionsrat zum sozialistischen Frauenbund. In: outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik 5. Leipzig 2015. S. 55-59; Kätzel, Ute: Die 1968erinnen. Porträts einer rebellischen Frauengeneration. Berlin 2002. 

  5. Frauen aus der Frauengruppe Freiburg: Kleingruppen – Erfahrungen und Regeln. In: Frankfurter Frauen (Hrsg.): Frauenjahrbuch ‚75. Frankfurt 1975. S. 184. 

  6. Wagner, Angelika: Bewußtseinsveränderung durch Emanzipations-Gesprächsgruppen. In: Schmidt, Hans Dieter et. al. (Hrsg.): Frauenfeindlichkeit. Sozialpsychologische Aspekte der Misogynie. München 1973. S. 143. 

  7. Anonym, S. 5. 

  8. Dackweiler, Regina: Ausgegrenzt und eingemeindet. Die neue Frauenbewegung im Blick der Sozialwissenschaften. Münster 1995. 

  9. Frauen aus der Frauengruppe, S. 156.  2

  10. Ebd. S. 195f. 

  11. Ebd. S. 196. 

  12. Ebd. 

  13. Ebd. S. 197; auch Wagner, S. 151. 

  14. Frauen aus der Frauengruppe, S. 189. 

  15. Wagner, S. 153. 

  16. Auch wenn es in Wagners Text ähnliche Tendenzen gibt, finden sich hier auch Stellen, die die Akzeptanz der Anderen in ihrer Andersheit ansprechen und in denen darauf verwiesen wird, dass man sich „niemals völlig in die Lage der anderen versetzen und die Situation mit ihren Augen sehen“ könne und dass, was „für uns selbst richtig“ sei, für eine „andere falsch sein“ könne, vgl. ebd. S. 150. 

  17. Allen, Pamela: Der Freiraum. In: Arbeitskollektiv der Sozialistischen Frauen Frankfurt (Hrsg.): Frauen gemeinsam sind stark! Texte und Materialien des Women’s Liberation Movement in den USA. Frankfurt a. M. 1972. S. 68. 

  18. Ebd. S. 67. 

  19. Ebd. S. 68. 

  20. Ebd. S. 69. 

  21. Allens Abstraktion von der persönlichen Erfahrung ist demnach ihre Konkretion: konkret in dem Sinne, dass sie reicher an Bestimmungen wird, wie Hegel es beschreibt. 

  22. Ebd. S. 69, Hervorhebung von mir. 

  23. Ebd. 

  24. Man könnte einwenden, dass die Autorinnen aus der Freiburger Frauengruppe sich der Relevanz der Verallgemeinerung durch Theoriebildung bewusst gewesen wären. Dafür spräche, dass sie explizit neben Angelika Wagners auch Pamela Allens Text als Quelle nennen. Auch könnte der Text in Beziehung zu Beiträgen im Frauenjahrbuch ’75 gesetzt werden, die sich feministischer Theoriebildung widmen. Ich möchte nicht bestreiten, dass die Autorinnen sehr wohl Interesse an feministischer Theoriebildung hatten, aus den Gruppen heraus eine solche betrieben wurde und auch die Biographien der ein oder anderen Autorin eine rege intellektuelle Tätigkeit beweist. Aber genau dadurch, dass ich von diesen Aspekten abstrahiere und mich ausschließlich darauf beziehe, was in den Texten steht, werden die Differenzen deutlich. Erst so zeigen sich Fallstricke des Erfahrungsbezugs, die noch heute aktuell sind. 

  25. Jelinek, Elfriede: Eine Versammlung. In: Die Schwarze Botin 2. 1977. S. 30. 

  26. Ebd. 

  27. Ebd. 

  28. Ebd. 

  29. Ebd. 

  30. Ebd. 

  31. Die Tendenz zur universellen Bestimmung des Individuums beschreibt Georg Lukács in Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Dass diese Tendenz von einer mächtigen Gegentendenz begleitet wird, vor allem, was die Möglichkeiten von Frauen angeht, ist eine Einsicht des marxistischen Feminismus, zum Beispiel des_ Aktionsrats zur Befreiung der Frau_ oder später von Frigga Haug. Selbstverständlich haben auch Männer ein Geschlecht und auch sie können sich innerhalb der kapitalistischen, androzentrischen Gesellschaft nicht universell bestimmen – und noch weniger sich selbst bestimmen. Aber das Geschlecht Mann ermöglicht einen größeren, allerdings ebenso entfremdeten Möglichkeitsspielraum, der in der Macht und Gewalt über andere – andere Männer, Frauen, Kinder – besteht. 

  32. Vgl. Lerner, Gerda: Die Entstehung des feministischen Bewußtseins. Frankfurt/New York 1995. 

  33. Diese Spannung entfaltet sich in der Geschichte der Frauenbewegung und der feministischen Diskussion seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Diskussionen der 1990er-Jahre zum Für und Wider eines Subjekts Frau sind unter anderem ein Ausdruck davon. 

  34. Achtsam sein – Kurztrip zum Ich ist der Titel der Ausgabe des Werbeblättchens_ active beauty_ der Drogeriemarktkette dm vom Oktober 2018. 

  35. Auf die Vorstellung der Erfahrung als Besitz macht die Historikerin Ute Daniel in ihrem Aufsatz Erfahrung – (k)ein Thema der Geschichtstheorie? (in: L’homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft. 11. Jg. Heft 1 / 2000, S. 120-123) aufmerksam. Sie bezieht sich dort auf den Philosophen John Dewey. 

  36. Ich möchte an dieser Stelle auf eine für mich sehr erhellende Bemerkung von Roland Barthes hinweisen. Er schreibt in Mythen des Alltags, dass das Wort Bevölkerung „die Vielzahl der Gruppen und Minderheiten entpolitisieren soll, die Individuen in einen neutralen, passiven Haufen zurückstoßen, der nur auf der Ebene eines politisch bewußtlosen Daseins Zugang zum bürgerlichen Pantheon hat“ und fügt hinzu, dass dasselbe für das Wort „die Betroffenen“ gelte. 

  37. Das „Persönliche“ liegt in der individuellen Verarbeitungsweise der Deutungsmöglichkeiten der Erfahrungen, die das Individuum macht. Zum Verhältnis von individueller Erfahrung und gesellschaftlicher Erfahrung vgl. Armin Bernhard: Allgemeine Pädagogik auf praxisphilosophischer Grundlage, Baltmannsweiler 2011. 

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