Auf den Spuren von Erfahrung
Gegen schlecht allgemeine Geschichtsdeutungen
Einleitung: Kritik der schlechten Verallgemeinerungen
Sie erzählen Dir, „wie es wirklich war“. Sie erzählen Dir von
Schlachten,
Königen und großen Konferenzen – „wie, wusstest
Du nicht?“ Sie wissen viel über Germanen, Karl den Großen,
Friedrich den Großen und andere Große, über das Wartburgfest
und Napoleon, über Bismarck und Adenauer. Es geht um Kaiser,
Kriege, Kanzler etc. pp. Und wichtig: Jahreszahlen auf Knopfdruck.
Ob bei Guido Knopp, in der Schule oder bei Opa: Politik- und
Ereignisgeschichte
gelten noch immer als Inbegriff von Geschichte.
Das ist eine sehr verbreitete Art, Geschichte zu betrachten. Ich
erlebe sie meistens bei Männern. Männern, die keine Fragen zu stellen
brauchen, denn es liegt eh alles auf der Hand: „… man hat ja
damals gedacht …“ (ihnen fällt übrigens die Abwesenheit von
Frauen nicht auf – zu fasziniert von Helden und Schurken der
Geschichte).
Ich habe ein Unbehagen mit schlechten Verallgemeinerungen. Es ist ein bestimmter (männlicher?) Gestus: abstraktes Gerede, in dem sich der Wunsch ausdrückt, über die Vergangenheit zu verfügen, sie handhabbar und wiederverwendbar zu machen.
Bei Linken gibt es Akzentverschiebungen: Hier stehen Kapitalismus
/ Industrialisierung / Nationalstaat / Moderne im Fokus und die
Frage, wie alles wurde, wie es ist. Strukturen und Prozesse, menschenleer,
aber voller Erklärungspotential. Oder es gibt doch Menschen:
Rousseau, Hegel, Marx, Adorno und so weiter, aber unbemerkt
bleibt, dass Ideengeschichte nicht die einzige Form von
Geschichte ist und was anderes als, sagen wir mal, Sozialgeschichte.
Wenn sie sehr ideologiekritisch von civic nation und ethnic nation
reden, fällt unter den Tisch, dass Idee und Realität nicht in eins
fallen. Aber sie hängen am gewohnten deutschen Sonderweg, also
warum Deutschland immer schon scheiße war, und so geht es am
schnellsten. Und dann gibt es auch noch solche, die Geschichtsphilosophie
mit Geschichte verwechseln (und dabei stets nur den
halben Benjamin zitieren), nur über Geschichtsbetrachtung
reden, aber nicht über Geschichte. Ich mache das jetzt auch,
aber nur als Mittel zum Zweck – zum Zweck der Kritik.
Ich habe ein Unbehagen mit schlechten Verallgemeinerungen.
Es ist ein bestimmter (männlicher?)
Gestus: abstraktes Gerede, in dem sich der
Wunsch ausdrückt, über die Vergangenheit
zu verfügen, sie handhabbar und
wiederverwendbar zu machen, aus ihr
praktikabel Dinge ableiten zu können (Argumente
für Tradition oder Argumente für die
Notwendigkeit zur Veränderung, je nachdem – so
oder so, es wird mit Geschichte Politik gemacht). Die so
aufgestellten historisch informierten Bescheidwisser unterschiedlichster
Art erklären gerne und ausführlich. Sie reden davon,
wo die „Ursprünge“ sind, wie sich alles entwickelt hat und was
dann geschah. Sie spannen Bögen und etablieren Kausalitäten. Sie
reden von Persönlichkeiten, die keine Körper haben und kein
Essen
brauchen, von abstrakten Strukturen und Prozessen. Was
erzählen sie und wie? Mit der größtmöglichen Überzeugung, mit
dem Selbstbild, Bescheid zu wissen, mit der Gewissheit einer
Macht der Fakten. Woher dieses elendige, falsche Selbstvertrauen?
Es entspringt bereits der Art dieser Erzählungen. Was sind das für
Erzählungen? Ist das eine „männliche Art“, Geschichte zu betreiben,
von Männern, die „Ahnung von Geschichte haben“? Es gibt
diese Art, Geschichte zu betrachten (aber auch die Gegenwart), die
von einem bestimmten Verhältnis zur Außenwelt geprägt ist, das
ohne Widersprüche, Brüche und Verflechtungen auskommt – und oft genug ohne konkrete Menschen und ihre Erfahrungen. Es ist
eine Art, sich die Welt zum Objekt zu machen.
Dabei steht doch Erfahrung von Menschen am Anfang historischen
Wissens – jedenfalls, wenn man sich nicht nur Gesetzestexte, nicht
nur Reden oder Schriften, Urkunden oder Handbücher anschaut.
Sich im Archiv durch Akten – sagen wir Polizei- oder Gerichtsakten,
Berichte und Verhörprotokolle, egal aus welchem Jahrhundert –
zu wühlen, heißt: auf Dienstmädchen, Wilderer, Fabrikarbeiterinnen,
Hysterikerinnen, Deserteure, Diebinnen, Schmuggler und
ihre Erfahrungen zu treffen: auf „die Vielen“, die mehr oder weniger
Namenlosen. Befragte, verhörte, drangsalierte Individuen. Man
stößt auf „Leben, die dazu verpflichtet wurden, zu erzählen“
(Arlette
Farge), in einem unerwarteten Moment, der ihre alltäglichen
Routinen unterbrochen hat. Die Menschen schildern ihre
Erfahrungen, ihre Sicht, ihre Deutung – mein Job ist es, sie zu
erhellen.
Und auch meine eigene Erfahrung spielt eine Rolle. Was passiert,
wenn ich mich ins Archiv begebe? Was bedeutet es, im Archiv zu
sein? Es bedeutet eine Auseinandersetzung mit dem Material – und
nicht zuletzt auch mit mir selbst: Das Blättern hat kein Ende und
der Rücken schmerzt. Es gibt eine Monotonie darin. Die Ränder
bröckeln und die Finger sind schwarz. Staub und Tinte, Hunger
und Durst. Ein ganzer Tag vergeht. Aber Konzentration ist wichtig, denn aufmerksam sein ist auch eine normative Frage. Ich muss
mich entscheiden: Welche Menschen sollen Gehör bekommen
und Eingang finden in den späteren Text, in die zu erzählende
Geschichte
(story) und damit in die Geschichte (history)? Wer
bekommt
eine Geschichte und wer nicht? Welches Leben wird
erzählt?
Diese Entscheidung zu fällen führt Dich zwangsläufig zu
der Frage: Was mache ich mit diesen Erfahrungswelten, die mir da
begegnen? Wie kann ich Aussagen über (vergangene) Gesellschaften
treffen, ohne den Einzelnen Gewalt anzutun, indem ich sie
nicht einfach unter etwas Allgemeines subsumiere?
Kritik der „Einheit der Geschichte“
Noch einmal von vorn und zurück zur Frage, auf welcher Basis die
Verfechter der großen Bögen und Männer aufbauen. Sie ist schon
im Ansatz problematisch, die darin enthaltene Idee der allgemeinen
Geschichte, denn „allgemeine Geschichte“ muss selbst historisiert
werden: „allgemeine Geschichte“ ist ein ziemlich männliches
Konzept. Erst im 19. Jahrhundert bildete sich die männlich
und nationalstaatlich konzipierte Geschichte heraus, auch indem
sie frühere Formen von Geschichtsschreibung, von „particular
history“
(Gianna Pomata) verdrängte. Die Professionalisierung
(„Verwissenschaftlichung“) der Geschichte fand in einer Welt ohne
Frauen statt (Bonnie Smith). Während sich die Historiker freuten,
wenn sie im Archiv „jungfräuliche Quellen“ eroberten (Leopold
Ranke), gaben sie sich zugleich den Anstrich größter Neutralität:
herauszufinden, „wie es denn eigentlich gewesen ist“ (auch Ranke).
Die Nationalgeschichte des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich
vollkommen
objektiv und absolut neutral allein auf die Staatshandlungen
von Männern, auf große politische Events, Kriege und
so weiter. Und sie wirkt fort, ist über die Maßen beharrlich, ploppt
auf bei den passendsten und vor allem unpassendsten Gelegenheiten
– sie in Frage zu stellen, ruft mitunter größte Abwehr hervor,
und sie geht doch einher mit der größtmöglichen Überzeugung.
Für Frauen bedeutet(e) Auseinandersetzung
mit Geschichte demnach
gleichzeitig, sich selbst in der
beschämenden Position wiederzufinden,
es mit Erzählungen zu tun
zu haben, in denen Frauen nicht
vorkommen (Gianna Pomata). In
den 1980ern begannen Historikerinnen,
diesen Allgemeinheitsanspruch
zu kritisieren – was ist
die Glaubwürdigkeit einer Geschichte,
die nur für die Hälfte der
Menschheit gilt? –, und beschädigten
ihn irreperabel. Frauengeschichte
entstand, um Leben von
Frauen zu erforschen und „die
tiefe und langandauernde Schlagseite
der historischen Zeugnisse
zu korrigieren“ (Natalie Zemon
Davis). Noch heute muss regelmäßig
daran erinnert werden, dass es
eine weibliche Perspektive gibt,
noch heute gelten bestimmte
Themen als unwissenschaftlich,
unprofessionell.
Vor der Denkfolie der „Einheit der
Geschichte“ ist klar, dass Frauengeschichte eine abgesonderte
„Spezialgeschichte“ (Karin Hausen), eine „besondere Geschichte“
(Natalie Zemon Davis) sein muss – wie eben auch Frauen seit der
Aufklärung das abgrenzbare Besondere darstell(t)en: Es gibt Menschen
und Frauen. Zuverlässig taucht also auch hier das altbekannte
Dilemma von Emanzipation auf. Die zugewiesene Rolle ist
unbequem und unabdingbar zugleich. Aber: Für Feministinnen ist
es unabdingbar, auf dem Partikularen zu beharren, denn Herrschaft
ist auch Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere.
Die universale Männlichkeit der Geschichte kann erst durch eine
explizit weibliche Geschichte aufgebrochen werden. Frauen sind
gesondert zu betrachten, gerade
weil sie ins Allgemeine eingeschrieben
werden müssen (Frigga Haug). Gleichzeitig ist es aber
notwendig, an der Idee eines Ganzen festzuhalten. Dies führt uns
zwangsläufig und immer wieder zu der Frage nach der Vermittlung
von Besonderem und Allgemeinem.
Ein Ansatz der Frauengeschichte bestand zunächst in der Pluralisierung
von Erzählungen. Karin Hausen formulierte 1998, das
Haus der Geschichte dulde zwar Anbauten, aber keinen Umbau. Sie
schlug vor, der „Nicht-Einheit der Geschichte“ dadurch Rechnung
zu tragen, „die Vielheit der Geschichte als wohldurchdachtes
historiographisches Programm auszugestalten“ (Karin Hausen).
Bezeichnet
„Vielheit“ ein bloßes Nebeneinander? Die unendliche
Multiplizierung von partikularen Geschichten? Lässt sich so die
Frage für die Frauen- und Geschlechtergeschichte im Verhältnis
zur „allgemeinen Geschichte“ beantworten? Lässt sich so beantworten,
was aus den „Vielen“, denen ich im Archiv begegnet bin,
und ihren Erfahrungen werden soll?
Die „Produktion geschichtlicher Erfahrung“
Für den nächsten Anlauf wieder einen Schritt zurück: Was ist überhaupt
das Problem mit den großen Erzählungen, die doch schön
griffig so viel erklären können? Wieso überhaupt sollten wir den
Vielen, den Einzelnen, dem Besonderen (ergo: auch den Frauen)
Rechnung tragen?
Weil so viele aus der Geschichte gegenüber übermächtigen Strukturen,
wichtigen Institutionen und großen Einzelpersönlichkeiten
herausgefallen sind. Sie wurden eingeschmolzen und einer großangelegten
Homogenisierung einverleibt. Es ist eine Geschichte
der Sieger, die sie so übergangen hat. Bei Walter Benjamin heißt
es: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der
,Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu
einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.“ Wie
kommen wir zu diesem Begriff? Wie bekommen wir die „Abgesonderten“,
die „Vielen“, ihre Praxis, ihr Handeln, ihre Interessen und
ihre Erfahrungen in den Blick? Um den Blick auf das „Unegale“
(Karl Marx), das, was sich der klassifizierenden Perspektive entzieht,
zu lenken, macht es Sinn, sich dem Alltag zuzuwenden.
Warum? Alltag ist in den Augen derer, die lieber was von Kaisern
und Kanzlern wissen wollen, langweilig und ereignislos. Alltag, der
Bereich der Reproduktion, hat ähnliche Konnotationen wie „Frau“,
gilt als ahistorisch und nicht-politisch (Dorothee Wierling). Aber:
Alltag ist gleichzeitig die Schnittstelle von Partikularem und Ganzem,
von Handeln und Struktur, von subjektiver Erfahrung und
objektiven Strukturen. Im Alltag zeigen sich Auswirkungen von
Ökonomie und Politik auf die Lebensbedingungen der Menschen,
ihre Erfahrungen und Strategien: Es ist der Alltag, wo Menschen
handeln, sich einen Reim auf die Welt machen, sich die Welt als
soziale und individuelle Praxis und sinnliche Wahrnehmung aneignen.
Und Geschichte – so als Alltagsgeschichte gedacht – wird
auf einmal zur Geschichte Vieler, die die gesellschaftlichen Verhältnisse
mitgestalten. Oder in Abwandlung von Karl Marx: „Die Menschen
machen ihre Geschichte unter vorgefundenen, gegebenen
und überlieferten Umständen – aber sie machen sie selbst“ (Belinda
Davis, Thomas Lindenberger, Michael Wildt).
Die Materialität der Erfahrung im Archiv selbst, die stoffliche Seite der Geschichte, lenkt Aufmerksamkeit auf das Unbemerkte, Unscheinbare, Fragmentarische, Ungleichzeitige – auf die nicht geschriebenen Spuren in der Geschichte.
Alltag also. Ein ganz anderer Zugang zur Geschichte als die Events,
die großen Konferenzen, die Kriege. Aber auch als die Strukturen,
geradlinigen Entwicklungen, leeren Kategorien. Oder die bedeutenden
Bücher, die herausragenden Gedanken, die herumschwebenden
Ideen. Die Annahme, dass vielmehr jeder Tag Geschichte
hat, Geschichte sein wird. Alltag ist nicht langweiliges Einerlei,
sondern das, wo Menschen Erfahrungen machen: in ihrer Arbeit,
in ihrem Konsum, in ihren Lebensverhältnissen, in ihren Beziehungen.
So wird Geschichte zu einer Geschichte der Erfahrungen
von Ohnmacht, aber auch des Widersetzens: des Eigensinns (Alf
Lüdtke).
Entscheidend auch gerade für die Frauengeschichte: Denn das
bedeutet
auch, dass Frauen in der Geschichte nicht passive Objekte
waren/sind, sondern ihre Interessen auf der Basis von Erfahrung
auf bestimmte Weisen durchsetz(t)en: Frauen wurden/werden
nicht nur unterdrückt, sondern hatten/haben auch Handlungsoptionen.
Sie waren/sind selbst Teil von Herrschaftsverhältnissen,
die immer wieder hergestellt werden mussten/müssen (Frigga
Haug). Über die Hinwendung zum Alltag kommen auch andere als
„große Frauen“ und ihre Leistungen, nämlich etwa Erfahrungen (und Wünsche und Beziehungen) von Dienstmädchen in den Blick.
Diese umfassen „Ohnmacht und Macht, Traditionalität und Modernität,
Abhängigkeit und Autonomie, Zielstrebigkeit und Orientierungsverlust“
(Dorothee Wierling).
Was aber ist nun mit diesem Erfahrungsbegriff? Von der Erfahrung
historischer Menschen auszugehen heißt, die Form zu betrachten,
die Produktions- und Besitzverhältnisse durch das Mitwirken von
Kultur und Bewusstsein bekommen, heißt, Konflikthaftigkeit von
Gesellschaft wahrzunehmen. Edward P. Thompson begriff dies
als historisch-kulturellen Materialismus, der vergangene „Wirklichkeit
als ,menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis‘“ (Karl Marx)
fasst und nicht einfach so „unter der Form des Objekts oder der
Anschauung“.
In diesem Sinne hebt der Begriff der Erfahrung auf
eine sinnlich-materiale Dimension ab, auf das Körperliche, die
stoffliche Seite der Geschichte. Erfahrung meint die Deutung von
Strukturen, den Umgang mit ihnen, die Auswirkungen von Ökonomie
und Politik auf die Leben der Menschen, Erfahrung umfasst
Gewalterfahrungen, Schmerzempfindungen, Sinneseindrücke und
Emotionen.
Also ganz einfach: Geschriebenes oder Erzähltes verrät uns die
Erfahrung
von Menschen? Wieder einen Schritt zurück, ich muss
das noch mal problematisieren: Wo sind die Tücken des Erfahrungsbegriffs?
Was verstehe ich unter Erfahrung? Es kann nicht
darum gehen, Erfahrung unkritisch zu überhöhen, sich auf die
Suche nach dem Authentischen und Unmittelbaren zu begeben
und schon gar nicht um Theoriefeindlichkeit – etwas, das Kritiker*innen des Erfahrungsbegriffs für die Geschichte gerne einwenden
(Joan W. Scott). Wenn diese mit dem linguistic turn argumentieren,
dann argumentieren sie auch, dass es keine Erfahrung gibt,
die nicht auf Grund von Normen und Werten und Konventionen
des Erzählens, also Sprache, gemacht wird, weil erst diese Erfahrungen
mit Sinn versehen. Und dass also jegliche Erfahrung – auch
jetzt hier gerade heute – nur Diskurs ist, weil alles schon kulturell
überformt ist.
Diesen Einwänden zu folgen, hieße allerdings, sich von dem entscheidenden
Bedeutungsgehalt des Erfahrungsbegriffs zu verabschieden.
Erfahrung nur als diskursiv zu begreifen, bedeutet, mit
einer Epistemologie einer Geschichte von unten zu brechen und
menschliche Praxis nicht mehr erfassen zu können (Kathleen Canning).
Dagegen drei Punkte: Erstens: Diskurse lassen sich nicht
ohne soziale und ökonomische Kontexte verstehen. Zweitens: Der
Fokus auf Diskurse allein macht Frauen als Akteurinnen und
Erfahrung
machende Subjekte unsichtbar: Diskurse sind nun mal
oft von Männern produziert, sodass zwar einiges über, aber nicht
von Frauen Gesagtes und Geschriebenes erfasst würde. Drittens:
Wenn alles Diskurs ist und es keine vorsprachlichen Erfahrungen
gibt, dann hat das auch Auswirkungen auf den Begriff oder das
Konzept des Körpers. Den Körper – wichtiges Thema für die Frauen- und
Geschlechtergeschichte – nur als diskursives Konstrukt zu
fassen, vernachlässigt die körperliche Erfahrung: Wie geht man
damit um, dass bis weit in das 19. Jahrhundert hinein eine Geburt
über Leben und Tod einer Frau entschied (Rebekka Habermas)?
Und sind nicht Erfahrungen von Schmerz und Gewalt unter Umständen
für die Einzelnen prägender als die Diskurse darüber?
Alleine
mit Beschreibungen von Schmerzen zu arbeiten, lässt die
sinnlich-materiale Dimension des Körpers außen vor.
Andererseits ist eben Erfahrung auch nichts, was ohne Bezüge auskommt,
nichts, was sich nur aus sich selbst heraus erklären lässt:
Es geht schließlich um Subjekte innerhalb einer (historischen oder aktuellen) Gesellschaft. Das heißt: Es ist beides relevant:
Gebären
und Stillen etwa sind mit Ritualen (Bedeutung) aufgeladen,
gleichzeitig haben körperliche Erfahrungen eine Geschichte
die jenseits dessen liegt, was über Diskurse zu erfassen wäre. Erfahrungen
sind durch Diskurse beeinflusst, aber nicht restlos determiniert.
Aber Erfahrungen sind eben auch nicht rein individuell,
sondern durch Vorwissen, Wahrnehmungsmuster, Normen, Konventionen,
Haltungen und Erwartungen mitgeprägt. Erfahrung
wird erzählt, gehört in einen bestimmten Kontext, ist an Kommunikation
gebunden (Kathleen Canning). Kurzum: Es gibt keine
von der Gesellschaft unberührte, quasi natürliche Erfahrung,
keine
Unmittelbarkeit (Ute Daniel). Erfahrungen sind nichts rein
Subjektives, sondern immer auch gesellschaftlich bedingt. Andererseits
gibt es neben der sozialen Bedingtheit von Körpern und
Geschlecht auch die Tatsache, dass der einzelne Mensch den Körper
als unmittelbar und authentisch erlebt. So kommen wir zu
einer Idee eines wechselseitigen Verhältnisses von Materialität und
Narrativität, von Erfahrung und Diskursen. Erfahrung als Kategorie
ist dann problematisch, wenn sie essentialisiert wird, wenn
damit Unmittelbarkeit, Authentizität und Wahrhaftigkeit gemeint
ist, aber Erfahrung als etwas, das über Sprache hinausweist, ist
unverzichtbar.
Damit zurück zum Verhältnis von Einzelnem und Ganzem. Halten
wir fest: Ich kann also nicht einfach so mit dem Fokus auf Erfahrung
die historische Wirklichkeit fassen. Es geht aber gerade nicht
darum, aus Erfahrungen einfach etwas abzuleiten: Weil ein Dienstmädchen,
ein Wilderer, eine Fabrikarbeiterin, eine Hysterikerin,
ein Deserteur, eine Diebin, ein Schmuggler dies und das schildert.
war es eben nicht für alle so. Sondern: in der Erfahrung kommen
Dinge zum Ausdruck. Um zu Erkenntnissen zu kommen, die über
die einzelne Erfahrung hinausgehen (etwas Allgemeines?), muss
ich also die Erfahrung der Einzelnen mit dem Ganzen in Verbindung
setzen. Erfahrung ist intersubjektiv, ich muss den Bezügen
nachspüren, den Kontext mitdenken. Nur, indem ich die Erfahrung
in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Zusammenhänge
einbinde, kann ich sie deuten.
Das Partikulare und das Ganze
Wie also verbinden sich nun die Erfahrungen der Einzelnen und
das gesellschaftliche Ganze? Wie lassen sich das Partikulare und
das Ganze zusammendenken, ohne dass etwas verloren geht? Wie
ist überhaupt historische Erkenntnis zwischen konkreter Anschauung
und großen Zusammenhängen möglich? Was sagen die im
Archiv zusammengetragenen Stimmen – eines einzelnen Müllers
um 1600, einzelner Reisender um 1820, einzelner „Hysterikerinnen“
um 1890, einzelner Fabrikarbeiterinnen um 1910, einzelner
Arbeitsloser um 1930, einzelner Schwuler um 1970 – aus? Spoiler I:
Als „beobachtbare Individuen“ (Jakob Tanner) können sie mir
gleichzeitig viel mehr sagen als ihre individuelle Geschichte. Spoiler
II: Ich gebe das Allgemeine nicht auf. Aber begreife das Verhältnis
als eine Verbindung (Gianna Pomata).
Der Reihe nach: Über das Verhältnis von Partikularem und Ganzem
in der Geschichte ist viel gesagt worden. Die Postmoderne proklamierte
schlichtweg das „Ende der großen Erzählungen“ (Jean-
François Lyotard). Lyotard sah in „großen Erzählungen“ – als
solche
galten ihm Liberalismus, Marxismus und Faschismus – totalisierendes
Denken. Ihm zufolge grenzten die großen Erzählungen das Besondere aus, weshalb „Differenzen
aktiviert und gerettet“ werden
sollten.
Dies könne durch eine „Diskursgerechtigkeit“
geschehen: Eine
Gerechtigkeit ohne Konsens, ein Geltenlassen
der Vielfalt. Auch wenn Lyotard
einen wichtigen Punkt berührte,
etwa dass große Erzählungen zur
Mythenbildung
einladen, liegt das Problem
in diesem bloßen „Nebeneinander“
und der mangelnden Bestimmtheit
dessen, was das Differente ist. Wer
dem folgt, hat den Anspruch, Herrschaft
analysieren zu wollen, jedoch
aufgegeben: Es geht dann nur noch
darum, das Nebeneinander auszuhalten,
eine unendliche und letzten Endes
beliebige Vielfalt zu produzieren.
Wie lässt sich dem Unbehagen an der
Einheit von Erzählungen nun anders
begegnen? Vorschlag: Mikrogeschichte!
Es ist übrigens immer wieder putzig,
wie sich bei Erwähnung von Mikrogeschichte
ein nettes Lächeln auf den
Gesichtern der Männer, „die Ahnung
von Geschichte haben“, einstellt: Weil sie denken, es ginge um
Kleinigkeiten. Warum sollte man sich bei einem Dorf, bei einem
Menschen, aufhalten? Wenn wir doch dringend wissen wollen, wie
alles war? Wenn wir doch dringend wissen müssen, was eigentlich
passiert ist, um zu wissen, wie Heute zu dem wurde, was es ist? Die
Antwort ist eigentlich sehr simpel: Mikrohistoriker*innen untersuchen
keine Dörfer, sondern in Dörfern (Giovanni Levi). Was
heißt das? Das heißt, vom Detail auszugehen.
Darin überschneidet sich die Perspektive der Mikrogeschichte mit
der Kritischen Theorie. Sie gehen beide von Verflechtung und
Ineinanderwirken
geschichtlichen Lebens aus: sich in Details zu
versenken, aber nicht ohne das Ganze im Blick zu behalten, um das
Detail selbst wieder kritisch aufzusprengen. Vor allem geht es beiden
darum, dass keine vereinheitlichten und widerspruchsfreien
Zusammenhänge aufgemacht werden, in denen das Einzelne,
Besondere,
Diffuse und Abweichende einfach so unter ein Erkenntnisschema
subsumiert wird und Objekte lediglich als Exemplar
von etwas Allgemeinem gefasst werden. Das ist übrigens so ein
Punkt, der ziemlich oft in der Rezeption schiefläuft, wenn ohne
genaue Anschauung die Begriffe der Kritischen Theorie irgendwo
draufgepfropft werden.
Dem Nicht-Identischen – dem Einzelnen, Besonderen, Vergänglichen,
Bedrohten – zum Ausdruck zu verhelfen und so die Funktionsweise
der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere
nachzuvollziehen, ist auch das, was Walter Benjamin in seinen
Thesen zum Begriff der Geschichte formuliert. Materialistische
Geschichtsschreibung heißt bei ihm Anschauung: Bei Benjamin
ist es die „kleinste Zelle angeschauter Wirklichkeit“, die „den Rest
der ganzen Welt auf[-wiegt]“, und in der „Analyse des Einzelmoments“
lässt sich der „Kristall des Totalgeschehens“ entdecken.
Phänomene materialistisch zu interpretieren heißt dann also, sie
nicht aus dem gesellschaftlichen Ganzen zu erklären, also abzuleiten,
sondern sie „in ihrer Vereinzelung, auf materielle Tendenzen
und soziale Kämpfe zu beziehen“ (Theodor W. Adorno). Materialistische Geschichtsschreibung nach Benjamin heißt, ein Bild stillzustellen, ein „bestimmtes Leben aus der Epoche, so ein bestimmtes
Werk aus dem Lebenswerk“ zu sprengen, da „im Werk das Lebenswerk,
im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte
Geschichtsverlauf aufgehoben ist.“ Was das genau bedeutet, hat
Benjamin selbst nicht beschrieben – vielleicht lädt das deshalb so
viele dazu ein, abstrakt rumzueiern, weil ihnen die Praxis fehlt.
Worum geht es also? Es geht um eine Absage an die Idee, dass für
die Geschichte ein höheres Level der Abstraktion ein besseres Verständnis
der Realität mit sich brächte (Gianna Pomata). Obwohl
Leute denken, dass es furchtbar klug und extrem elaboriert wäre,
bedeutet es vielmehr einen Informationsverlust: „Makro-Geschichten,
die ihre Selbstgenügsamkeit überspielen, neigen dazu, sich zu
verlieren“ (Siegfried Kracauer). In sehr hohen Abstraktionen gibt
es laut Kracauer keinen „Bezug auf die Evidenz, die sie decken
sollen. Sie lesen Ideen in Dinge hinein, die nicht in den Dingen
sind“. Durch große Erzählungen wird also die historische Wirklichkeit
eher verfinstert und verzerrt.
Und auch bei Kracauer wird klar: Es geht nicht um Beispiele (nicht
um das Dorf selbst), sondern darum, „durch den konkreten Gegenstand
Aussagen über ein Allgemeines zu treffen, ohne dass der
Gegenstand
zu einem bloßen Exempel einer Theorie reduziert
würde.“ Deswegen sollen die Gegenstände nicht nebeneinander
stehen. Hier setzte er mit Überlegungen an, die auch für die
Mikrogeschichte
von größter Bedeutung sind: Wie im Film werden
close-ups
und long shots als Ebenen der Beobachtung von
Geschichte
kombiniert. So kommt man zu einer permanenten
Bewegung
der Perspektive – und das ist auch ein Unterschied zu
Adorno und Benjamin, die da ziemlich vage bleiben. Erst die konstante
Bewegung ermöglicht es, zu einer Vermittlung von Detail
und Zusammenhang zu kommen: Somit sind Mikro- und Makroebene
keine Gegensätze. Eine solche Vermittlung von Besonderem
und Allgemeinem ist laut Kracauer ein „ungewisses Wagnis“, die
Erkenntnis kommt in Form von „Blitzen, die die Nacht erhellen“,
als Knotenpunkte, an denen das Konkrete und Abstrakte zusammentreffen.
Denken wir also an die Fabrikarbeiterinnen, Hysterikerinnen,
Schwulen, Deserteure, Müller und so weiter. Es ist klar: Erkenntnisse
über sie lassen sich nicht einfach verallgemeinern: Nicht
immer
hat jede Müllerin so gelebt wie eine. Aber nehmen wir sie in
bestimmten Situationen in den Blick, lässt sich anhand von ihnen
eine Geschichte von Subjekten mit ihren Handlungsmöglichkeiten
schreiben, lassen sich Logiken, Möglichkeiten und Beziehungen
herausarbeiten. Es heißt eben nicht, auf den „Schwindel
des Individuellen“ hereinzufallen, sondern die „kleinen Erfahrungen“
als einen integralen Teil der „großen Geschichte“ zu sehen,
von der sie aber eine andere, komplexere Version liefern (Jakob
Tanner). Damit werden nicht die Gegenstände kleiner (unwichtiger?!),
sondern der Beobachtungsmaßstab: was erst ermöglicht,
ein Geflecht, ein Ineinandergreifen, gesellschaftliche Beziehungen
aus der Nähe nachzuvollziehen.
Das, was die Mikrogeschichte so entscheidend von Lyotards „kleinen
Geschichten“ unterscheidet, ist das Beharren auf dem Kontext
(Carlo Ginzburg). Während postmoderne Historiker*innen denken,
es müsse zu einer fragmentierten Darstellungsweise kommen, um
die Nichteinheit der Geschichte zu erfassen, steht eine mikrohistorische
Perspektive der Fragmentierung gerade entgegen: Denn
es geht um das Detail im Kontext, um das Denken in Zusammenhängen. Geschichte muss in einer relationalen Weise – als Netzwerk
– erzählt werden (Natalie Zemon Davis).
Ende. Oder: Die Erfahrung des Archivs
Was bedeutet es, so auf Geschichte zu blicken? Was macht das mit
Dir selbst? Es bedeutet Verunsicherung und Anstrengung. Es bedeutet,
Vernetzungen und Verbindungen nachzuspüren. Es bedeutet,
dass Verallgemeinerungen nicht ohne weiteres möglich sind.
Mit der Macht der Fakten ist es nicht weit her, wenn man viele
Perspektiven miteinbeziehen muss. Damit – jetzt am Ende lege ich
es offen, aber wahrscheinlich ist es ohnehin bereits klar – ist dieser
Text ein Plädoyer für die konkrete Anschauung. Es ist nicht leicht,
kluge Fragen an einen bestimmten Gegenstand zu stellen und von
da aus weiter zu denken. Es ist vor allem nicht leicht, wenn man
jemand sein will, der die Vergangenheit beherrscht. Aber große
abstrakte Erzählungen verunklaren mehr als dass sie uns helfen,
zu verstehen. Schlechte Verallgemeinerungen machen so vieles
unsichtbar. Sie erwecken den Anschein von Bescheidwissen, tatsächlich
aber verdunkeln sie.
Materialismus bedeutet, eben nicht schlecht abstrakt vorzugehen.
Für Geschichte heißt das, nicht einfach philosophische a-priori-Konzepte
zur Anwendung zu bringen, sondern konkret historische
Situationen zu analysieren (Edward P. Thompson). Man kann in
der Betrachtung von Geschichte nicht alles einfach aus statischen
Kategorien und Strukturen ableiten, dem Gegenstand Methode
und Logik aufzwingen. Das liegt auch daran, dass es einen Unterschied
gibt zwischen Philosophie und Geschichte, der manchen
(Männern? Linken?) nicht ganz klar zu sein scheint. Für Kracauer
hebt Geschichte eben nicht auf die endgültige Wahrheit (wie etwa
Naturwissenschaft oder Philosophie) ab. Die Praxis der Geschichtsschreibung
stellt theoretische Probleme, die aber empirisch gelöst
werden müssen: Man kommt am empirischen Material nicht vorbei,
deswegen muss es um einen Dialog mit ihm gehen. Und wenn
man sich ins Material versenkt, wird sichtbar, dass die Dinge in
Bewegung sind, widersprüchlich, sich nicht einfach so fixieren lassen.
Man muss beides als Einheit betrachten, Kategorien und den
praktischen Vollzug, Theorie und historisch-gesellschaftliche Praxis
(Edward P. Thompson). Und dann lässt sich auch schauen: Wo
genau produziert Alltag Nicht-Identisches, wo lassen sich Potenziale,
Unabgegoltenes aufspüren?
Dies hier ist eine Kritik bestimmter Modi der Argumentation, die
auf Geschichte zurückgreifen. Wenn es um Konservative geht, um
Burschis oder auch nur Opa: Nehmt sie so auseinander, wie ich es
hier vorschlage, verunsichert sie. Zwingt sie, Fragen zu stellen.
Wenn es um die eigenen emanzipatorischen Argumentationen
geht, die Vorträge, die Aufrufe, die Herleitungen: Man kann nicht
automatisch das Spätere aus dem Früheren erklären. Dies hier ist
eine Kritik der Empirieabstinenz. Eine Kritik derer, die sich zu
schade sind für die Wirklichkeit und ihre Oberflächenphänomene.
Ich bin, wenn es um historische Zusammenhänge geht, einer sich
selbst genügenden Theoriearbeit überdrüssig: Sie zeugt von Armut
und Anmaßung gleichermaßen. Ich bin des falschen Selbstvertrauens
überdrüssig: Es gibt diesen bestimmten Gestus des Erzählens,
eine Selbstgefälligkeit im Umgang mit Geschichte. Es ist klar,
dass nicht jede*r für jedes Thema ins Archiv gehen kann und muss. Aber: Man muss im Kopf behalten, dass
es Archive gibt. Im Kopf behalten, dass
das Wissen über die Vergangenheit
nicht als fertige Erzählung in die Welt
kommt. Wenn Du ins Archiv gehst,
dann gibt es da eine Präsenz des Qualitativen,
des Individuellen, der es sich
nur schwer entziehen lässt. Gleichzeitig
sind nicht mal Archive
Orte der Gewissheit,
denn sie folgen einer eigenen
Logik des Archivierens: Es gab und gibt
komplizierte Regeln dafür, was aufbewahrt
und was weggeschmissen wurde
und wird. Es gab und gibt unterschiedliche
Annahmen zu unterschiedlichen
Zeiten und in unterschiedlichen Archiven
darüber, was und wer wichtig ist.
Das Archiv ist auch ein Ort der Leerstellen.
Die Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit
von Quellen können für den
Historiker (vielleicht weniger für die
Historikerin, die zumindest die Dissonanz
zwischen weiblicher und „allgemeiner“
Perspektive von klein auf gewohnt
ist) schwer auszuhalten sein. Doch sich in die Details zu
versenken, führt dazu, eine falsche Souveränität zu vermeiden
(Theodor W. Adorno). Die Materialität der Erfahrung im Archiv
selbst, die stoffliche Seite der Geschichte, lenkt Aufmerksamkeit
auf das Unbemerkte, Unscheinbare, Fragmentarische, Ungleichzeitige
– auf die nicht geschriebenen Spuren in der Geschichte. Sich
ins Material zu versenken, die Kontrolle aufzugeben, das Lückenhafte
anzunehmen, Geduld aufzubringen, keine vorschnellen Aussagen
zu treffen, auszuhalten, dass man vielleicht nur eine vorläufige
Beziehung zum Objekt der Erkenntnis hat – das ist eine
Erfahrung des Archivs. Spuren und Fährten zu entziffern, um
Aussagen über die Vergangenheit zu treffen – es ist mühevoll,
doch
die scheinbar nebensächlichen
Indizien können allgemeinere Phänomene
enthüllen
(Carlo Ginzburg). Ein Rest von Unsicherheit
lässt sich dabei nie ganz vermeiden, das hat eine Betrachtung von
Individuellem,
von Fällen, von Situationen an sich und es ist okay.
Denn: Geschichte
ist mehr als Bescheidwissen. Es kommt auf die
Fragen an, die man stellt, die Perspektiven, die man einnimmt und
wie man sie zusammenbringt. Es kommt darauf an, der Vielstimmigkeit,
und Widersprüchlichkeit Rechnung zu tragen. Es geht
um Verstehen, darum, erklärende Beziehungen zwischen den Phänomenen
herzustellen – alles andere ist reine Vielwisserei (Marc
Bloch). Es hat auch etwas Unempathisches, das bescheidwisserische
Vorgehen in der Auseinandersetzung mit Geschichte. Für die
Betrachtung von Details, Mikrologien, dem Besonderen aber
braucht es ein Sensorium, eine Aufmerksamkeit, eine Sensibilität
und Fantasie. Das heißt: sich ins Stoffdickicht einwühlen (Jörg
Später).
Vielleicht haben Frauen damit weniger Probleme: Die Geschichte
von Frauen ist notwendig bereits eine Mikrogeschichte – vieles
muss erst noch mit genauem Blick erschlossen werden, Frauen als
Akteurinnen sichtbar gemacht werden. Und gleichzeitig gibt es
immer auch eine politische Notwendigkeit: Sich nicht selbst zu
marginalisieren, sondern ins Allgemeine einzuschreiben.
LITERATUR
Adorno, Theodor W.: Zur Lehre von der Geschichte und von der
Freiheit. Frankfurt a.M. 2006 [1964/65].
Ders.: Charakteristik Walter Benjamins. In: Tiedemann, Rolf
(Hrsg.): Walter Benjamin. Sprache und Geschichte, Stuttgart
2010 [1955]. S. 155-172.
Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Tiedemann.
Rolf (Hrsg.): Walter Benjamin. Sprache und Geschichte,
Stuttgart 2010 [1955]. S. 141-154.
Bloch, Marc: Apologie der Geschichte oder: Der Beruf des
Historikers. München 1985.
Bos, Marguérite: Erfahrung. Alles nur Diskurs? Zur Verwendung
des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte. Zürich
2002.
Canning, Kathleen: Problematische Dichotomien. Erfahrung
zwischen Narrativität und Materialität. In: Bos, M.: Erfahrung.
Alles nur Diskurs? S. 37-58.
Daniel, Ute: Die Erfahrungen der Geschlechtergeschichte.
In: Bos, M.: Erfahrung. Alles nur Diskurs?. S. 59-69.
Zemon Davis, Natalie: Frauen und Gesellschaft am Beginn der
Neuzeit. Frankfurt a. M. 1989.
Farge, Arlette: Der Geschmack des Archivs. Göttingen 2011
[1989]. S. 12.
Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines
Müllers
um 1600. Berlin 2011 [1976].
Ders.: Mikrogeschichte. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr
weiß [1994]. In: Faden und Fährten. Wahr, falsch, fiktiv.
Berlin
2013. S. 89-111.
Ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach
sich selbst. Berlin 1995 [1983].
Habermas, Rebekka : Frauen- und Geschlechtergeschichte.
In: Eibach, Joachim/Lottes, Günther (Hrsg): Kompass der
Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch. Göttingen 2006. S. 230-245.
Haug, Frigga: Der im Gehen erkundete Weg. Marxismus-Feminismus.
Berlin 2015.
Hausen, Karin: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische
Herausforderung. Zur historischen
Relevanz
und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte. In: Medick,
Hans /Trepp, Anne-Charlott
(Hrsg.): Geschlechtergeschichte
und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen
und Perspektiven. Göttingen 1998. S. 15-55.
Kracauer, Siegfried: Geschichte. Vor den letzten
Dingen. New York 1969.
Levi, Giovanni: On Microhistory. In: Burke. Peter (Hrsg.):
New Perspectives on Historical Writing. Oxford 1991. S. 93-113.
Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. München 1989 [1983].
Ders.: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982 – 1985. Wien 2009 [1986].
Davis, Belinda / Lindenberger, Thomas / Wildt, Michael: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historischanthropologische
Erkundungen. Frankfurt a.M. 2008. S. 29-42.
Pomata, Gianna: History. Particular and Universal. On Reading
Some Recent Women’s History Textbooks. In: Feminist
Studies,
19 (1993) 1. S. 6-50.
Dies.: Close-Ups and Long Shots: Combining Particular and
General in Writing the Histories of Men and Women.
In: Medick, Hans / Trepp, Anne-Charlott (Hrsg.): Geschlechtergeschichte
und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen
und Perspektiven. Göttingen 1998. S. 99-124.
Schöttker, Detlev / Wizisla, Erdmut: Arendt und Benjamin. Texte,
Briefe, Dokumente. Frankfurt a. M. 2006.
Smith, Bonnie G. : The Gender of History. Men, Women, and the
Historical Practice. Cambridge 1998. S. 103-130.
Später, Jörg: Siegfried Kracauer. Eine Biografie. Berlin 2016.
Tanner, Jakob: Historische Anthropologie zur Einführung. Hamburg
2004.
Thompson, Edward P.: Das Elend der Theorie. Zur Produktion
geschichtlicher Erfahrung. Frankfurt a. M. 1980.
Wierling, Dorothee: Alltagsgeschichte und Geschichte der
Geschlechterbeziehungen.
Über historische und historiographische
Verhältnisse. In: Lüdtke, Alf (Hrsg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen
und Lebensweisen. Frankfurt a. M. 1989. S. 169-190
Sarah Freng lebt in Leipzig, ist Historikerin und geht gern in Archive. Dort mag sie, Menschen zu entdecken und wie die Finger sich verfärben. Sie mag keine Schlauschnacker.