Charlotte Mohs und Koschka Linkerhand

Natürlich gesellschaftlich?

Überlegungen zu Arbeit, Natur und Geschlecht

Unser Text entwickelt Grundlagen eines Verständnisses von Geschlecht, das auf materialistischen Füßen stehen soll. Wir betrachten die beiden Geschlechtscharaktere als Resultat eines herrschaftlichen Mensch-Natur-Verhältnisses, das sich im Kapitalismus im Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital reproduziert; Geschlecht und Sexualität stehen folglich stets unter diesen patriarchalen Vorzeichen. Damit wollen wir die Auseinandersetzung um einen materialistischen Feminismus in der outside the box weiterführen. Beginnen wir mit einem ideologiekritischen Exkurs, der in eine Entfaltung des Zusammenhangs von Arbeit, Natur und Geschlecht überleitet.

Natur und Geschlecht: Biologismus und Dekonstruktivismus

Die aktuellen ideologischen Fundamente des Geschlechterverhältnisses sind, so scheint es, enorm widersprüchlich – gerade in ihrem Bezug auf die natürlichen Grundlagen von Geschlecht. Auf der einen Seite findet sich der biologische Determinismus, der neurophysiologisch und evolutionär argumentiert: Männer und Frauen sind halt so, wie ihre geschlechts- spezifisch ausgebildete Hirn- und Hormonstruktur es ihnen vorschreibt. Leider schreibt sie ihnen die ältesten patriarchalen Plattitüden vor: Männergehirne neigen demnach zu Rangkämpfen, zur zielführenden Planung und geradlinigen Durchführung, während unter der weiblichen Schädeldecke Sprach- und Empathiezentren besser vernetzt sind. Das berichten unzählige Studien und populärwissenschaftliche Ratgeber über die schwierige Situation zwischen den Geschlechtern, von denen eines vom Mars, das andere von der Venus sei. Wie von Cordelia Fine in Die Geschlechterlüge (2010) ausgeführt, wird in diesen Publikationen ein starkes gesellschaftliches Bedürfnis spürbar, die beiden Geschlechtscharaktere zu erklären und zu bestätigen – eine Sehnsucht, die die wissenschaftliche Fragestellung von vornherein so beeinflusst, dass von objektiv haltbaren Ergebnissen nicht die Rede sein kann.1 Interessant hierbei ist, dass der derzeitige Biologismus – anders als sein Vorläufer, der Sozialdarwinismus der vorletzten Jahrhundertwende – anschlussfähig ist für ein kulturalistisches Denken, wie es die Postmoderne kennzeichnet: Immerhin wird die gegensätzliche Prägung von Männer- und Frauenhirnen mit Jahrtausenden geschlechtlicher Arbeitsteilung erklärt. Von höhlenhütenden weiblichen Frühmenschen wird phantasiert und von männlichen Frühmenschen auf Großwildjagd, deren jeweiliges Tagewerk sich in unsere Gene eingeschrieben habe. Männer reden nicht viel mit ihren Freundinnen, weil sie seit Aberhunderten von Generationen feierabends schweigend ins Feuer gestarrt haben: Veränderung ausgeschlossen, einfühlsames Verständnis erwünscht. Bei näherer Betrachtung werden die scheinbar naturgegebenen Geschlechtscharaktere somit zum biologisch-gesellschaftlichen Grenzfall – ein interessanter Ansatz, der allerdings völlig der Rechtfertigung und Tradierung sexistischer Zuschreibungen gewidmet ist. Ideologisch bedingt, wie er ist, fehlt dem Biologismus jede Reflexion darauf, dass Frauen spätestens seit der kapitalistischen Entfaltung der Produktivkräfte in sehr viel geringerem Maße auf die Fortpflanzung zurückgeworfen sein müssten als während ihrer evolutionären Entwicklungsgeschichte, als Schwangerschaft, Geburt und Stillen wahrscheinlich tatsächlich einen großen Teil ihrer Lebensenergie verschlangen und ihnen bestimmte Tätigkeitsbereiche innerhalb der Gemeinschaft verschlossen.2

Wie es sinnlos ist, Natur jenseits von Gesellschaftlichem zu verhandeln, so führt es in die Irre, von Gesellschaft zu reden und dabei von Natur zu schweigen.

Im postmodernen Biologismus wird, wie die britische Feministin Natasha Walter in Living Dolls (2011) warnt, das Korsett der geschlechterspezifischen Erziehung wieder enger geschnürt. Von der Einsicht, dass Mädchen, um den Einschränkungen weiblicher Erziehung zu entgehen, zum Toben und Bauen und zur Durchsetzungsfähigkeit ermutigt werden sollten, Jungen hingegen zum Gefühlsausdruck, ist heute nur noch wenig zu spüren. Walter führt aus, wie durch das Überhandnehmen geschlechtsspezifischer Konsumprodukte, die den kindlichen Alltag durchziehen, Mädchen in einen pinkfarbenen Prinzessinnenkosmos gezwungen werden, der ihre Vorstellungen von sich und der Welt brachial beeinflusst: Ihnen wird vermittelt, traditionell weibliche Werte wie Liebe, Sicherheit, Harmonie und Schönsein seien das Allerwichtigste. Es gibt heute kaum mehr Spielzeug, Kinderkleidung, süßigkeiten oder -pflegeprodukte, die nicht durch die Signalfarben rosa und blau eindeutig Mädchen oder Jungen zugeordnet wären; auch Bücher, Filme und Serien für Kinder sind zunehmend geschlechterspezifisch ausgestaltet. Durch diesen Zuordnungsirrsinn und die damit als ganz natürlich verbreiteten Rollenmodelle von Weiblichkeit und Männlichkeit werden Jungen und Mädchen (ganz zu schweigen von intersexuellen Kindern) in ihren Entwicklungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Da der gesellschaftliche Kontext ein patriarchaler ist, haben besonders die Mädchen unter der strikten Zweiteilung zu leiden: Ihnen wird suggeriert, sie seien weniger leistungs und konkurrenzfähig als ihre männlichen Altersgenossen, sie werden genötigt, ihren Bewegungs- und Abenteuerdrang zu unterdrücken und sich stattdessen mit der Zurichtung ihrer Körper aufzuhalten, die so schlank und sauber und dekorativ wie möglich zu halten sind. Nicht zuletzt durch seine kulturindustriellen Entsprechungen zementiert der Biologismus also die traditionellen Geschlechterbilder – als lebten wir tatsächlich in einer Welt, in der es darauf ankäme, Prinzesschen oder Pirat zu sein.

Dieser ideologischen Verwurzelung von Geschlecht steht das dekonstruktivistische Freiheitsideologem konträr gegenüber. Der Imperativ der Wahlfreiheit, auch was die Gestaltung der eigenen Geschlechtlichkeit anlangt, widerspricht – oberflächlich betrachtet – der Festschreibung einer unveränderlichen Zweigeschlechtlichkeit, wie sie im selben Gesellschaftszustand mit biologistischen Argumenten betrieben wird. Dekonstruktivistische TheoretikerInnen, als deren bekannteste Judith Butler firmiert, dominieren seit etwa zwanzig Jahren die kultur- und geisteswissenschaftliche akademische Debatte weit über das Thema Geschlecht hinaus; dekonstruktivistische Geschlechtervorstellungen reichen mittlerweile bis in die Politik der etablierten Parteien und in eine queere Pop- und Alltagskultur hinein, wie sie sich in vielen linken und LGBT-Szenen etabliert hat. Trotz dieser relativ breiten Verankerung ist der Dekonstruktivismus sein subversives Image bisher nicht losgeworden; besonders in der linken und feministischen Kritik am biologistischen Geschlechterverständnis der Mehrheitsgesellschaft scheint er unverzichtbar zu sein. Anders als der Feminismus der Zweiten Frauenbewegung geht der Dekonstruktivismus nicht von einem patriarchalen Geschlechterverhältnis aus, in dem die Frau immer schon minderwertig, entmachtet, „die Andere“3 ist – sondern er will Geschlecht überhaupt als Differenz verstanden wissen. Im durchaus ehrenwerten Bestreben, repressive Biologisierungen aufzulösen, wird dem binären Geschlechtermodell die Utopie der tausend Geschlechter entgegengehalten, von welchen ein jedes dieselbe Daseinsberechtigung und Wertschätzung erfahren soll. Damit verbunden ist eine neue Interpretation des Verhältnisses von Geschlecht und Natur. Biologie wird nun nicht mehr als einer von zwei Hauptfaktoren von Geschlecht betrachtet (wie klassisch bei Simone de Beauvoir) oder zur Nebensache in der politischen Frauenfrage erklärt (wie bei Alice Schwarzer), sondern – theoretisch abgeschafft. In Körper von Gewicht (1993) lehnt Butler, trotz gegensätzlicher Versicherung, die Materialität von Körpern, also ihren natürlichen Ursprung, als unerkennbar und unbeschreibbar ab. Der Körper avanciert zum vielfältig deutbaren diskursiven Ereignis, das möglichst jeder Geschlechternorm entzogen und frei gestaltet werden soll. In ihrer Kritik am Biologismus erklärt Butler den menschlichen, immer schon geschlechtlich sozialisierten Körper zum Produkt kultureller Zuschreibungen. Darauf hebt das auch in der deutschsprachigen Theorie vor dem Terminus Geschlecht bevorzugte gender ab: das rein soziale und kulturelle Geschlecht, dessen Verbindung zur Biologie gekappt ist.4 Wer Natur als Prädiskursives annimmt, geht nach Butlers Urteil den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen auf den Leim, deren Interesse es ist, die Ungleichheit der Geschlechter zu reproduzieren. Damit liegt sie nicht ganz falsch. Unsere Körper sind zutiefst geprägt von der Sozialisation hin zu einem der zwei Geschlechter, und ihre Betrachtung ist ohne die Brille kultureller Vorstellungen nicht denkbar. Dennoch muss eine materialistische Untersuchung annehmen, dass sich hinter dem Sprechen über Natur und Körper etwas befindet, das diesem Sprechen zugrunde liegt: etwas, das wir Natur nennen können, auch wenn es erst durch den menschlichen Intellekt, der von der Natur entfremdet ist, erfasst werden kann. Der philosophische Begriff der Natur ist eine gedankliche Vergegenständlichung, die universell-menschliche Erfahrungen verallgemeinert und abstrahiert und ohne die Gegenbegriffe Geist und Gesellschaft keinen Sinn ergibt. Wie es sinnlos ist, Natur jenseits von Gesellschaftlichem zu verhandeln, so führt es in die Irre, von Gesellschaft zu reden und dabei von Natur zu schweigen. Zur Erfahrung von Natur gehören alle körperlichen Erfahrungen. Natur äußert sich in den unhintergehbaren Bedürfnissen, zu essen und zu schlafen, und in der Notwendigkeit zu sterben; sie äußert sich in der Erfahrung von Mangel und Befriedigung, die noch das geistigste Streben antreibt. Auf geschlechtsspezifische Weise äußert sich die Körpernatur in Ejakulation, Menstruation und Geburt, die – unabhängig von ihrer kulturellen Einbettung – in allen menschlichen Gemeinschaften zu allen Zeiten stattfinden. DekonstruktivistInnen schießen in ihrer Kritik des Biologismus weit am Ziel vorbei, wenn sie diese natürlichen Grundlagen von Geschlecht verabschieden und somit Natur überhaupt zur Naturalisierung erklären.

Der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur

In ihrem Versuch, Geschlecht adäquat zu erklären, weisen die Ideologien Biologismus und Dekonstruktivismus also grundsätzliche Mängel auf. Weder ist Geschlecht Schicksal der Natur noch lässt es sich schlichtweg in eine Mannigfaltigkeit auflösen, denn es ist mehr als diskursives Produkt. So weit, so gut – aber wieso braucht es die Annahme von Natur, um die Kategorie des Geschlechts zu bestimmen? Und inwiefern ist Geschlecht, über den materialistischen Begriff der Arbeit, doch wiederum als gesellschaftlich zu verstehen? Um sich diesen Fragen zu nähern, ist es notwendig, sich erstens das Verhältnis von Natur und Gesellschaft näher anzuschauen und zweitens zu verstehen, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Subjekt niederschlagen. Denn es sind ja Subjekte – vergesellschaftete Einzelne –, die sich als Männer und Frauen gegenüberstehen.

Maßgeblich für den Zusammenhang von Natur, Individuum und Gesellschaft ist und bleibt, in welcher Form der Mensch sich die Natur aneignet. Im Laufe eines langen Zivilisationsprozesses lernt er, die Natur seinen Bedürfnissen gemäß zu gestalten. Dass der Mensch mit wachsendem Selbstbewusstsein die Natur umfassend bearbeitet, macht überhaupt sein gesellschaftliches Wesen aus: Indem er sich die Natur zum Objekt seiner Arbeit setzt, wird er selber zum Subjekt. Durch die Arbeit als zweckgerichtete Tätigkeit, „worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert“5 bringt er sie in eine „vermenschlichte“ Form. Gesellschaft und Natur sind also wechselseitig vermittelt über die menschliche Tätigkeit, wobei jede Art der gesellschaftlichen Produktion ihre Grenze am natürlichen Material hat. Zwar hat der Mensch nur einen gesellschaftlichen Zugang zur Natur, doch gibt es an dieser immer etwas, das unabhängig von der Gesellschaft existiert. Um die Segnungen der Zivilisation zu genießen, muss der Mensch seine unmittelbaren Triebregungen zurückstellen. So kann Nahrung nur zubereitet und konserviert werden, wenn man dem Impuls, sie sofort zu verzehren, widersteht, um im Winter nicht zu verhungern. Ein bestimmtes Maß an Triebverzicht, wie ihn jeder Säugling schmerzvoll erlernen muss, ist daher allen Epochen gemeinsam, denn der Prozess der Zivilisation ist einer der fortschreitenden Naturbeherrschung – oder mit Adorno

Nicht zuletzt durch seine kulturindustriellen Entsprechungen zementiert der Biologismus die traditionellen Geschlechterbilder – als lebten wir tatsächlich in einer Welt, in der es darauf ankäme, Prinzesschen oder Pirat zu sein.

und Horkheimer gesagt: „Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Entsagung.“6 Die Genese des Subjekts handelt folglich von der Verdrängung seiner Sinnlichkeit und körperlichen Lüste. In welcher Form diese Verdrängung der Triebe allerdings stattfindet, kann nur mit Blick auf die konkreten historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse beantwortet werden. Wir konzentrieren uns auf die kapitalistische Gesellschaft. In dieser werden feudale Herrschaftsverhältnisse, die auf persönlicher Abhängigkeit beruhen, von der sachlich vermittelten Herrschaft des Kapitals abgelöst. Dass sich das Kapital zu einer objektiven Macht über die Köpfe der Menschen hinweg verselbständigt, gründet im widersprüchlichen Charakter der Warenproduktion und dieser wiederum im Doppelcharakter der Arbeit. Bekanntlich produzieren die WarenbesitzerInnen privat und unabhängig voneinander und treten erst im Austausch ihrer Waren in Kontakt zueinander. Ihre konkreten Arbeiten werden also nicht unmittelbar gesellschaftlich anerkannt, sondern stellen im Austausch der Waren den Zusammenhang zwischen den ProduzentInnen her. Um die je unterschiedlichen Arbeiten der Einzelnen, die sich in der Ware vergegenständlicht haben, im Austausch aufeinander beziehen zu können, ist es notwendig, von deren konkreten Eigenschaften zu abstrahieren. Um etwa Schuhe gegen Hüte zu tauschen, nutzt es nichts, an die Tätigkeit der Schuh- und HutmacherInnen zu denken; entscheidend ist, dass alle überhaupt Arbeit in ihre Produkte gesteckt haben. Die Waren werden also auf ihr Gemeinsames reduziert, nämlich Produkte menschlicher Arbeit überhaupt zu sein. Durch den Austausch erlangt also die allgemeine Arbeit die gesellschaftliche Bedeutung, die allgemeine Form der konkreten Arbeiten zu sein. Als in den Waren vergegenständlichte nimmt diese abstrakte Arbeit wiederum die Form des Werts an, der im Tauschwert der Ware erscheint. Weil die konkreten Arbeiten also nur über den Austausch in der vergegenständlichten Form abstrakter Arbeit gesellschaftlich sind, werden die Beziehungen der Menschen zu Beziehungen zwischen den Sachen. Der Wert gibt sich nicht zu erkennen als der Ausdruck dieses Verhältnisses zwischen Privatarbeiten, sondern erscheint als der Ware natürlich anhaftende Eigenschaft. Seine Bewegung verselbständigt sich gegenüber den konkreten Arbeiten der einzelnen WarenbesitzerInnen, die zu bloßen Agenten des gesellschaftlichen Vollzugs werden.

Der konkrete Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur erscheint als ein verkehrter Zusammenhang – als Verhältnisse der Sachen.

Der Endzweck ist nicht mehr die Produktion von Gebrauchswerten, sondern die Selbstverwertung des Werts. Die Gesellschaft stellt sich also nur her durch die Abstraktion von den konkreten Arbeiten der Einzelnen, die sich in der Form allgemeiner menschlicher Arbeit im Wert vergegenständlichen. Unter dieser Herrschaft des Werts über den Gebrauchswert wird die konkrete Natur – einschließlich der Leiblichkeit der ArbeiterInnen – zu einer abstrakten, quantifizierbaren Größe, die es zum Zwecke der Verwertung zu beherrschen gilt. Der konkrete Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur erscheint als ein verkehrter Zusammenhang – als Verhältnisse der Sachen.7

Der zweckgerichtete Charakter und seine Sehnsüchte

Innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftung wird sowohl in der Realität als auch im Denken von der konkreten Natur abstrahiert. Was heißt das nun aber für die Subjekte, die jeden Tag fleißig diese Gesellschaft reproduzieren? Natürlich lässt auch sie das nicht unberührt. Im Gegenteil: Von Geburt an verinnerlichen sie die gesellschaftlichen Strukturen. Das heißt keineswegs, dass das Individuum in seinen Bestimmungen identisch wäre mit der Gesellschaft. Marx‘ Bezeichnung des Menschen als „gesellschaftliches Tier“ bringt die Sache auf den Punkt: Der Mensch ist nicht nur ein soziales, sondern zugleich ein Naturwesen. Er bewegt sich also immer schon entlang der Grenze zwischen Natur und Gesellschaft. Dies weiß auch die Freud’sche Psychoanalyse: Als Triebwesen strebt der Mensch zunächst danach, seine inneren libidinösen Wunschregungen zu befriedigen. Erst nach und nach erfährt diese Innenwelt ihre Prägung durch die Außenwelt. Die Transformation der Triebe durch die Realität ist unter der Herrschaft des Kapitals – ganz allgemein formuliert – von repressiver Art. Um unter dem Kapital sein Leben zu fristen, muss der Einzelne sich dem Zwecke der Verwertung fügen – meist, indem er seine Arbeitskraft zu Markte trägt – und dabei seine Leiblichkeit gewaltsam disziplinieren. Wie im Tausch von den konkreten Gebrauchswerten abstrahiert wird, muss das Subjekt, um sich selbst zu erhalten, schonungslos die eigenen Triebe kontrollieren. Der Widerspruch zwischen konkreter und allgemeiner Arbeit der warenproduzierenden Gesellschaft – zwischen Wert und Gebrauchswert – setzt sich so im Subjekt fort: Es muss sich auch in seiner Psyche mit eben jener Zerrissenheit herumschlagen, nämlich die eigenen Wünsche gewaltsam mit der gesellschaftlichen Form in Einklang zu bringen. Dies kann es nur, indem es sich durch ein hohes Maß an Triebverzicht mit dem repressiven Allgemeinen identifiziert, obwohl dieses ihm seinen Anspruch auf Glück größtenteils versagt. Das Resultat ist bekannt: der männliche zweckgerichtete Charakter, der sich gegenüber der eigenen konkreten Körperlichkeit einzig als beherrschender, rationaler Geist verhält.

Die Verinnerlichung gesellschaftlicher Herrschaft geht also Hand in Hand mit der Verdrängung der eigenen Sinnlichkeit. Was hat das nun aber mit dem Geschlecht zu tun? Unsere These dazu lautet, dass das Geschlechterverhältnis ein Austragungsort genau jener verdrängten Triebe ist, dass also in ihm die ausgeblendete Naturgebundenheit des bürgerlichen Subjekts in veränderter Gestalt wiederkehrt.8 Das verdrängte Material wird abgespalten und auf die Frau projiziert und naturalisiert – diesmal aber nicht als die quantifizierende Naturkonzeption, wie sie in den Wissenschaften herrscht, sondern als Ausdruck von Sinnlichkeit, Schönheit, Verführung etc. Die moderne Vorstellung von Natur trennt sich also in zwei Sphären: Einmal wird sie formal-abstrakt betrachtet und einmal stellt sie sich dar als mit dem Weiblichen assoziierte Natur. Im patriarchalen Geschlechterverhältnis werden die Momente verhandelt, die nicht in der durch das Kapital vermittelten Vergesellschaftung aufgehen und daher verdrängt werden müssen. Das heißt nicht, dass diese Momente nicht Teil der gesellschaftlichen Praxis sind, entscheidend ist, dass sie nicht als solche bewusst werden. Sie erscheinen als eigene, von der Warenförmigkeit abgetrennte Sphäre, eben als Natur oder im Traum; aber auch im Nichtkalkulierbaren und Zerstörerischen, als Gefahr und Unvernunft. Verdrängt das Subjekt seine Triebe und Wünsche, so folgt daraus keineswegs, dass diese verschwinden. Die vom Ich im Unbewussten gehaltenen Regungen streben unerbittlich danach, wieder bewusstseinsfähig zu werden. Dies erfolgt auf zwei Umwegen: Zum einen verlagert das Ich verbotene Wunschregungen in die Außenwelt, projiziert sie also auf Andere. Das alte patriarchale Bild von der Frau als Verführerin rührt also aus dem Bedürfnis, die Erinnerung an die eigene, verdrängte Sexualität abzuwehren. Zum zweiten wird der Inhalt der Wünsche derart bearbeitet und umgedeutet, dass sie dem Bewusstsein nicht mehr als verboten erscheinen und dadurch bewusstseinsfähig werden. Die Art und Weise der Umdeutung und Projektion ist natürlich in hohem Grade gesellschaftlich geprägt. In Bezug auf das Geschlechterverhältnis lässt sich folgern, dass die verdrängte Sinnlichkeit in Form der zwei Geschlechtscharaktere ins Bewusstsein wiederkehrt. Durch die Spaltung der Menschen in zwei Geschlechter kann das Subjekt seine innere Widersprüchlichkeit realitätsgerecht ordnen, d.h. seine Wünsche der warenförmigen Gesellschaft anpassen. Dem männlichen Subjekt kommen jene Eigenschaften zu, die mit der abstrakten Vergesellschaftung und dem dazugehörigen geistigen Prinzip vereinbar sind: Rationalität, Aktivität, Autonomie; dem weiblichen all jene, die unter der formalen Selbstbewegung des Werts unbewusste Sehnsüchte bleiben: Emotionalität, Wärme, Passivität. Das männliche Subjekt darf sich nicht ohne weiteres als gefühlvoll und abhängig von Anderen, geschweige denn vom Körper wahrnehmen und verbannt diese Empfindungen ins Phantasma der Weiblichkeit. Frauen hingegen beschert diese Art der Vergesellschaftung den nahezu unlösbaren Konflikt, sich als Subjekt verwerten zu müssen, gleichzeitig aber als Liebes- und Herrschaftsobjekt des Mannes herzuhalten. In den sozialen Beziehungen im weitesten Sinne zeigt sich die Widersprüchlichkeit als Trennung der Sphären der Produktion und Reproduktion. Das Kapital muss, will es sich am Leben erhalten, beständig neue Arbeitskraft in sich einsaugen. Der Arbeiter kann jedoch seine Arbeitskraft nur verausgaben, weil er ein leibliches, sinnliches Wesen ist – mit Muskeln, Nerven und Hirn. Das Kapital denkt aber nur an seine eigene Reproduktion: Es zählt allein der Wert, den die Arbeitskraft innerhalb einer bestimmten Zeit schafft. Das Kapital leugnet die Abhängigkeit der Produktion von der Natur.

Inwiefern ist Geschlecht, über den materialistischen Begriff der Arbeit, doch wiederum als gesellschaftlich zu verstehen?

Deswegen kann auch hier die Reproduktion des Menschen als bedürftiges Naturwesen nicht als gesellschaftliche Größe erscheinen und wird in eine abgetrennte Sphäre verbannt.9 So etabliert sich mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft ein von der produktiven Arbeit separierter, privater, scheinbar natürlicher Bereich, für den die Frau zuständig ist und der jegliche für das Kapital unproduktiven Arbeiten umfasst – also alle Tätigkeiten, die keinen Wert schaffen. Der Zusammenhang zwischen Reproduktion des Kapitals und Reproduktion der Ware Arbeitskraft erscheint damit nicht mehr als ein Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur, sondern beide Bereiche kommen als natürliche Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen daher. Die gesellschaftlichen Rollen werden aus der allgemeinen Natur des Menschen erklärt und können somit als statisch und unveränderbar legitimiert werden. Die Naturalisierungen durchziehen also verschiedene Dimensionen: Die Geschlechterbilder prägen die körperliche und psychosexuelle Konstitution der Subjekte sowie deren gesellschaftliche Beziehungen. Die Kategorie Geschlecht verweist also zugleich auf den Menschen als Naturwesen sowie auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in der die Naturgebundenheit geleugnet und der Frau angelastet wird. Geschlecht ist damit als Grenzbegriff zwischen Natur und Gesellschaft zu fassen.10 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Kritik an Biologismus und Dekonstruktivismus, von der wir ausgegangen sind, noch zuspitzen: Letzten Endes sind sie die zwei Seiten einer Medaille, sowohl was ihren Naturbegriff anlangt, als auch wegen der Folgerungen, die daraus jeweils für das Verhältnis von Geschlecht und Arbeit gezogen werden.

Geschlecht und Arbeit: Biologismus und Dekonstruktivismus II

Was nämlich die dekonstruktivistische Theorie mit dem Biologismus verbindet, ist der ideologische Zusammenfall von Subjekt und Gesellschaft. Beide verfehlen die Bestimmung von Geschlecht als Grenzbegriff von Natur und Gesellschaft, indem sie eine der beiden Positionen verabsolutieren: Natur oder Gesellschaft. Richtiger gesagt, erklären beide Strömungen Geschlecht von Kultur aus; denn wie im postmodernen Biologismus Natur kulturalistisch interpretiert wird, hält die dekonstruktivistische Gesellschaftstheorie einem dialektischen Begriff von Gesellschaft nicht stand, der – wie oben entwickelt – auf dem Spannungsverhältnis zwischen einzelnem Subjekt und gesellschaftlichem Ganzem beruht. Stattdessen sind die Subjekte laut dekonstruktivistischer Deutung immer schon Kultur, sie gehen aus ihr hervor und bewegen sich unentrinnbar in ihr. Folglich gibt es keine gesellschaftliche Objektivität mehr und keinen objektiven Maßstab, an dem die Widersetzlichkeit des vergesellschafteten Individuums gemessen werden könnte. Damit wird eine universalistisch vorgebrachte Gesellschaftskritik unmöglich, wie sie sich in Marx’ Forderung äußert, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“11 Der fehlende Gesellschaftsbegriff beider Ideologien zeigt sich an ihrem Verständnis von Arbeit. Arbeit wird nicht mehr als das zentrale Moment im Vergesellschaftungsprozess begriffen, dem alle Subjekte gleichermaßen unterliegen und das ihr Verhältnis zur Gesellschaft vermittelt. Die leitende Ideologie zu Marx’ Zeiten und noch lange danach bestand im Sozialdarwinismus, der das starke Unternehmersubjekt propagierte und offen sexistisch, rassistisch und bourgeois argumentierte. Er präsentierte die kapitalistische Gesellschaft als dem Einzelnen feindlich; es gelte, sich die Welt untertan zu machen, zu fressen, statt gefressen zu werden. Die Rechtfertigung von Herrschaft und Ausbeutung, somit von Patriarchat und Kapitalismus, trat darin noch unverschleiert zutage. Heute haben sich die Vorstellungen von Arbeit und Geschlecht den Anforderungen der Globalisierung und einer flexibilisierten Arbeitswelt angeglichen. Lohnarbeitsverhältnisse sind oftmals nicht mehr langfristig existenzsichernd und identitätsstiftend; es mehren sich Arbeitsbiographien, die durch Brüche und Anpassung an verschiedene Umstände und Leistungsprofile gekennzeichnet sind. Dazu verschwimmen zunehmend die Grenzen von Arbeit und Freizeit, also von Produktion und Reproduktion. Die Schichtarbeit in der Fabrik ist vielfach unsicheren Zeitarbeitsverhältnissen und dem Home Office gewichen; parallel dazu wird die freie Zeit genutzt, den eigenen Marktwert zu steigern: durch Fitness, sogenanntes lebenslanges Lernen oder das Knüpfen von Netzwerken. So kann die freiberufliche Arbeitnehmerin, die den ganzen Tag lang zumindest telefonisch verfügbar sein muss, beim socializing mit Kollegen oder potenziellen AuftraggeberInnen in ihrem Lieblingscafé nicht mehr recht sagen, wann sie arbeitet und wann nicht. Die Forderung des Tages lautet, sich eine individuelle, gut vernetzte Überlebensnische zu suchen, sich notfalls mit dem Existenzminimum zufrieden zu geben und das Ganze auch noch als ureigenste Selbstverwirklichung zu bejahen. Das kapitalistische Herrschaftsverhältnis gegenüber der Natur, wie es sich im patriarchalen Gefälle der Geschlechter sowie im Zwang zur Lohnarbeit äußert, bleibt dabei gesellschaftskonstituierend; aber die Unsicherheit in den Arbeitsverhältnissen erfordert veränderte Ansichten über Geschlecht.

Der postmoderne Biologismus reagiert auf diesen Wandel mit dem Bemühen, Arbeit und Geschlecht ideologisch wieder zu verwurzeln. Frauen, erklären BiologistInnen, seien nicht minderwertig, nur anders – und übersehen dabei geflissentlich, dass Frauen mit Hilfe dieses Erklärungsmodells in den mieseren Arbeitsverhältnissen der patriarchalen Gesellschaft festgehalten werden. Der biologische Determinismus ermuntert Frauen, weiterhin un- bis unterbezahlte Tätigkeiten abzuleisten, entsprächen die Vorlieben für Nestbau, pädagogische, pflegerische und künstlerische Berufe doch ihrem natürlichem Interesse; Physik und Maschinenbau – Studienberufe mit ökonomisch weit günstigeren Aussichten – könnten sie getrost den Männern überlassen. Im Widerspruch zur klassischen Emanzipationsforderung, Frauen bräuchten vor allem einen Beruf, um finanziell unabhängig zu sein, wird dadurch das Dasein als Mutter in Teilzeit, die nachmittags die Gören und den Haushalt rockt (und sich nach zehn Jahren mit Burnout einliefern lässt12), wieder salonfähig. Jedoch wird es, anders als im Sozialdarwinismus, nicht mehr der Gesamtheit der Frauen als alleinige weibliche Mission auf Erden verordnet – sondern zur Entscheidung der Einzelnen verklärt. Kanzlerinnen, Chefärztinnen und weiblich dominierte Aufsichtsräte seien ja eine prima Sache; aber die meisten Frauen wollten das gar nicht. Die Karriere zugunsten der Kinder zurückzufahren, im Ehrenamt vor sich hin zu wurschteln oder die Sicherheit einer Langzeitbeziehung einem abenteuerlichen Sexleben vorzuziehen: Diese traditionellen Entscheidungen in Lebensläufen von Frauen befänden sich, das zeige die Statistik, mehr im Einklang mit der weiblichen Natur. Mann und Frau stünden einander gleichberechtigt, aber eben sehr verschieden gegenüber. Derselbe absonderliche, doch durchaus zeitgemäße Demokratismus, dessen Doktrin die Gleichwertigkeit des Verschiedenen ist, liegt dem Dekonstruktivismus zugrunde. Er behauptet eine unendliche Vielfalt der Geschlechter wie der Existenzformen: Was verbindet die Kreativtante von nebenan schon mit der Bankangestellten drei Häuser weiter und erst recht mit der Bäuerin im Maghreb, über deren Lebensrealität sich von unserer Warte nichts aussagen lasse? Mit diesem Beharren auf Differenz stößt die dekonstruktivistische Wahlfreiheit, die sich so gern als Feindin aller Naturalisierungen gebärdet, in dasselbe Horn wie ihr biologistisches Pendant: Die beruflichen und privaten Entscheidungen der Einzelnen sind in jedem Fall als Selbstverwirklichung zu respektieren. Auf diese Weise mutet es völlig unbedenklich an, wenn eine junge Frau sich im Vollgefühl ihrer Individualität dafür entscheidet, nach dem Abitur Erzieherin zu werden, sich für ein sexistisches Werbeplakat ablichten zu lassen oder eine Liebesbeziehung mit einem um einiges älteren, wohlsituierten Mann einzugehen und ihm – ganz nebenbei, wie es sich eben ergibt – die Bude sauber zu halten. All diese Tätigkeiten sind Sammelbecken weiblicher Tugenden, die die Betreffende in ihrem einsozialisierten Geschlechtscharakter bestätigen und ihrer persönlichen Entwicklung, deren Weichen von vornherein auf Weiblichkeit gestellt worden waren, kaum andere Möglichkeiten zugestehen. Die kulturalistische Freiheit durch Identität mit sich selbst entpuppt sich als Scheinfreiheit, die die patriarchalen Verhältnisse zementiert. Biologismus wie Dekonstruktivismus behindern ein feministisches Bewusstsein, das zur kritischen Sicht auch der eigenen Lebensverhältnisse aufruft: Muss das so laufen, will ich das wirklich? Welche anderen und besseren Möglichkeiten habe ich? Eine andere deprimierende Konsequenz des bunten Nebeneinanders von beruflichen und geschlechtlichen Identitäten ist der Verlust an Solidarität untereinander, die nötig wäre, um sich gegen patriarchale Zumutungen im Hier und Jetzt zur Wehr zu setzen – nicht nur in der Arbeitswelt, wo Frauen nahezu überall mit sexistischer Diskriminierung zu kämpfen haben, ob es sich dabei um sexuelle Belästigung handelt, um fortdauernde Lohnungleichheit oder die Erwartungshaltung, sich für den Abwasch in der Betriebsteeküche zuständiger zu fühlen als die männlichen Mitarbeiter. Erst der feministische Austausch mit anderen Frauen kann zu der Erkenntnis führen, dass bestimmte Mängel und Unsicherheiten, die der Einzelnen das Leben schwer machen, eben keine individuellen Probleme sind, sondern Widersprüche, die in der weiblichen Subjektivität selbst liegen. Unterschiedliche Erfahrungshorizonte anzuerkennen ist notwendig, darf aber nicht dazu führen, die Einsicht zu Grabe zu tragen, dass alle Differenzen in Arbeits- und Geschlechterverhältnissen letztlich auf dasselbe Verhältnis von Gesellschaft und Natur zurückzuführen sind, das materialistisch und universalistisch zu bestimmen ist. Unvermitteltes Differenzdenken, ob biologistischer oder dekonstruktivistischer Prägung, bietet keine Perspektive der Befreiung: Alles bleibt mit Notwendigkeit, wie es immer schon gewesen ist, die Subjekte können und sollen nicht aus ihrer Haut. Weder das Geschlechterverhältnis noch die durch Lohnarbeit vermittelte Gesellschaft können auf diese Weise angemessen kritisiert werden.

Schluss

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf dieses verquickte Verhältnis zurück. Wir haben Geschlecht als Grenzbegriff bestimmt, weil die beherrschte Natur des bürgerlichen Subjekts im patriarchalen Geschlechterverhältnis seine Bewegungsform findet. Geschlecht ist also als Produkt gesellschaftlicher Naturalisierungen zu verstehen, die wiederum aus dem spezifischen Stoffwechselprozess mit der Natur hervorgehen. Insofern sind die Geschlechtscharaktere in erster Linie als gesellschaftlich konstituierte zu kritisieren. Aber genau weil in materialistischer Perspektive das Verhältnis von Gesellschaft und Natur auf den Begriff gebracht werden soll, muss die Natur als etwas von der Gesellschaft Unabhängiges und ihr Entgegengesetztes mitgedacht werden. Passiert das nicht, entziehen wir dem menschlichen Stoffwechselprozess den Boden unter den Füßen. Da zu diesem die Reproduktion der Menschen gehört, ist davon auszugehen, dass auch dem Geschlecht ungesellschaftliche, unverfügbare Momente innewohnen. Weiter ließe sich sagen,

Die Verinnerlichung gesellschaftlicher Herrschaft geht also Hand in Hand mit der Verdrängung der eigenen Sinnlichkeit. Was hat das nun aber mit dem Geschlecht zu tun?

dass diese immer etwas mit Fortpflanzung, Gebärfähigkeit und ähnlichen Dingen zu tun haben. Die natürlichen Anteile genau bestimmen zu wollen, ist unmöglich, denn wir haben zur Natur nur einen gesellschaftlich vermittelten Zugang, praktisch durch den Arbeitsprozess und theoretisch durch unsere Begriffe. Trotzdem ist es notwendig, auf den Menschen als Naturwesen zu reflektieren – aber weniger durch Definition als durch Konstellation im Sinne Adornos: „Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.“13 Zum anderen, und das ist entscheidend, ist ein Mehr an Aussage über mögliche biologische Grundlagen auch gar nicht erstrebenswert. Denn eines sollte klar geworden sein: Der Mensch als „gesellschaftliches Tier“ regelt seine Reproduktion innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, dem unmittelbaren Naturzusammenhang ist er lange schon entrückt. Jedes Stück (Geschlechts-)Natur ist also gesellschaftlich überformt. Die Problematik des Patriarchats liegt in der Verdrängung ihrer Naturgebundenheit, die das Subjekt als Einzelnes und die Gesellschaft als Ganzes vollziehen müssen, um sich am Leben zu erhalten. Es ist nicht die fälschlicherweise statisch gedachte Natur, die den Menschen ihr ambivalentes Verhältnis zum Körper und die Geschlechtsidentität auferlegt. Die Gesellschaft hat den Naturzwang, der den Menschen einst das Leben erschwerte, verwandelt; niemand ist mehr direkt von biologischen Facts bestimmt. Der Zivilisation wohnt durchaus das Potenzial inne, die Natur dahingehend zu verändern, dass Leiden vermindert wird und sich mehr Glücksmöglichkeiten eröffnen. Wer weiß, inwieweit der Frauenkörper mittels technischer Errungenschaften tatsächlich vom Gebären emanzipiert werden könnte? Schuld daran, dass das Geschlecht noch immer wie ein „gewachsener Fels“ (Freud) die Menschheit spaltet, ist der gesellschaftliche Zwangszusammenhang, der veränderbar wäre, jedoch gemeinsam mit der Körpernatur ins Unbewusste verdrängt ist und daher ideologisch verklärt wird. Wenn eine Frau heute noch bei der Geburt stirbt, handelt es sich kaum mehr um den Fluch der (biologischen) Weiblichkeit. Vielmehr sind die gesellschaftlichen Umstände anzuklagen, die derjenigen die heilkundliche Behandlung aus Kosten- oder ideologischen Gründen verweigert haben.

Diese aufklärerische Seite des Kapitals hat den Pferdefuß, dass die Aufhebung des patriarchalen Geschlechterverhältnisses seine Grenze an eben demselben Kapital hat.

Innerhalb der kapitalistischen Totalität wird es, allen Demokratisierungstendenzen der Geschlechtscharaktere zum Trotz, immer eine Kontinuität in der Subjektstruktur und somit des patriarchalen Geschlechterverhältnisses geben. Das klingt nach einem Widerspruch – aber dieser ist in der Sache selbst zu suchen. Ohne Zweifel wurden seit dem Beginn der bürgerlichen Gesellschaft immer mehr Individuen zu Subjekten vergesellschaftet, die sich dem Kapital unterwerfen mussten, indem sie die eigene Natur verdrängten. Diese Subjektform hat sich vom männlichen Bourgeois auf Proletarier beiderlei Geschlechts, bürgerliche Frauen und schließlich Schwarze ausgeweitet und greift in vielen Teilen der Welt weiter um sich. In dieser Hinsicht stimmt es, dass vor dem Kapital alle gleich sind; und so können dann endlich auch Männer Babyurlaub nehmen und Frauen in der Chefetage einer Aktiengesellschaft sitzen. Denn die dem Kapital innewohnende Demokratisierung reicht so weit, dass sich einerseits die Geschlechtscharaktere erweitern und verändern, und andererseits die Individuen – zumindest in der westlichen Gesellschaft – sich in ihrer flexibilisierten Geschlechtsidentität freier bewegen können. Beides ist unbedingt als Fortschritt zu begrüßen. Aber diese aufklärerische Seite des Kapitals hat den Pferdefuß, dass die Aufhebung des patriarchalen Geschlechterverhältnisses seine Grenze an eben demselben Kapital hat. Denn wie die Selbsterhaltung der Einzelnen vom Kapital abhängt, so ist auch dieses kein perpetuum mobile, sondern stets und ständig auf frische Arbeitskraft angewiesen, um seine endlose Bewegung am Laufen zu halten. Es muss also irgendwen geben, der für die Reproduktion von Arbeitskraft verantwortlich ist: jemanden, der gebiert, kocht, putzt und wäscht, der für Liebe, Begehren, Heimeligkeit zuständig ist, all die Dinge, die sich nur bedingt und unvollständig der Verwertungslogik unterwerfen. In diesem Widerspruch gründet die Notwendigkeit, Weiblichkeit als das Andere festzuschreiben. Es braucht zum zweckgerichteten autonomen Subjekt ein komplementäres Gegenstück, das sich nicht allein in Berufsgruppen oder im Subjekt selbst verorten lässt; es wird in dem Moment erkoren, wenn am Neugeborenen eine Vulva festgestellt wird. Das Subjekt braucht einen Anderen – deshalb ist die arbeitsteilige Gesellschaft weiterhin auf die Reproduktion konkreter Männer und Frauen angewiesen. Denn solange die Gesellschaft ihren Reichtum als ungeheure Warensammlung unbewusst vor sich aufstapelt, werden sich die verdrängten Sehnsüchte der geschundenen Subjekte im Bild vom schönen, passiven, verführerischen Naturwesen Frau – so emanzipiert sie auch sei – hartnäckig erhalten.

Das Autorinnenkollektiv lebt in Leipzig und empowert sich gegenseitig. Charlotte Mohs versucht emsig, Wert- und Libidotheorie miteinander zu vermitteln. Koschka Linkerhand ist das zu phallisch; sie beschäftigt sich mit feministischen Veranstaltungen und Artikeln zu Themen wie Patriarchat, Sprachfeminismus und weibliche Sexualität, die unter meinefrauengruppe.blogsport.de einzusehen sind.

  1. So wird der populäre Beziehungsratgeber Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken (2000), verfasst von den KommunikationstrainerInnen Allan und Barbara Pease, von einem Test gekrönt, wie männlich oder weiblich die Leserin selber ist, adäquat zu ihrem Hormonhaushalt: In diesem Sinne korreliert etwa die Unfähigkeit zu multi-tasking mit lesbischen Tendenzen. Der Witz daran ist, dass die Leserin dieselben Fragen beantworten soll wie der männliche Leser, jedoch die erreichte Punktzahl mit einer anderen Zahl multiplizieren muss, um zum endgültigen Ergebnis zu gelangen. Das führt natürlich den ganzen Versuch, Weiblichkeit und Männlichkeit empirisch zu bestimmen, von vornherein ad absurdum. 

  2. Siehe Die Entstehung des Patriarchats (1986), ein Werk der kürzlich verstorbenen Historikerin Gerda Lerner, die mit den Mitteln eines feministisch reflektierten historischen Materialismus versucht, das Patriarchat ausgehend von dieser frühen, geschlechtsbedingten Arbeitsteilung zu erklären. Lerner untersucht die Institutionalisierung der sexuellen, wirtschaftlichen und religiösen Unterordnung der Frau in den Gesetzgebungen Mesopotamiens, Altägyptens und Altisraels und leistet auf diese Weise Pionierarbeit darin, dem Geschlechterproblem mit historischen Mitteln zu Leibe zu rücken. Für heutige Verhältnisse recht unbefangen von einer natürlichen Zweigeschlechtlichkeit ausgehend, betont sie zugleich die Notwendigkeit einer geschichtsbewussten Herangehensweise: „Der offensichtlichste Fehlschluß der Soziobiologen geht auf ihren unhistorischen Erklärungsansatz zurück, der die Tatsache außer Acht läßt, daß Frauen und Männer heute nicht mehr im Naturzustand leben. Die Geschichte der Zivilisation beschreibt den Prozeß, durch den die Menschen sich von ihrem Naturzustand entfernt haben, indem sie Kultur entstehen ließen und entwickelten. […] Gleichwohl erwarten die Traditionalisten von den Frauen, daß sie dieselben Rollen übernehmen und Tätigkeiten ausführen, die im Neolithikum eine funktionale Bedeutung hatten und für das Überleben der Spezies unerläßlich waren.“ 

  3. Nach Simone de Beauvoirs zeitloser Formulierung in Das andere Geschlecht (1949). 

  4. Die dekonstruktivistische Verleugnung des Geschlechtskörpers geht bis hin zum Vorschlag, beim Sex die Lustzentren Penis und Klitoris zugunsten des Anus zu vernachlässigen, der – ganz basisdemokratisch – allen gleichermaßen zur Verfügung steht (Beatriz Preciado), und zum Traum vom übergeschlechtlichen Cyborg, dessen Ablösung von der Natur fast vollkommen ist (Donna Haraway). In beiden Fällen wird Natur bzw. Naturalisierung zur Schuldigen an der Unfreiheit der Sexualität erklärt; das patriarchale Bestreben nach totaler Herrschaft über den Körper wird nicht kritisiert, sondern fortgesetzt. 

  5. Karl Marx/Friedrich Engels Werke, Bd. 23, Berlin 1958, S. 192. 

  6. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, 1984, S. 51f. 

  7. Der Zusammenhang von Wert, Wertform und abstrakter Arbeit kann z.B. im neuen Artikel von Ingo Elbe nachgelesen werden: www.rote-ruhr-uni.com/cms/Soziale-Form-und-Geschichte.html. 

  8. Ausführlicher kann der hier dargestellte Zusammenhang von Naturverdrängung und Wiederkehr des Verdrängten im Geschlechterverhältnis nachgelesen werden in: Carmen Gransee, Grenzbestimmungen. Zum Problem identitätslogischher Konstruktionen von „Natur“ und „Geschlecht“, 1999, (insbesondere 2. Kapitel). 

  9. Siehe dazu auch die Wert-Abspaltungs-Theorie der Wertkritikerin Roswitha Scholz, die vom Kapitalismus als einem „warenproduzierenden Patriarchat“ spricht. 

  10. Siehe dazu auch den sehr aufschlussreichen Artikel von Micha Böhme: Die Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse im Subjekt, online nachzulesen unter: www.conne-island.de/nf/164/21.html 

  11. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx/Friedrich Engels Werke, Berlin 1956ff., Bd. 1, S. 379. 

  12. Die Doppelbelastung durch Lohn- und unentgeltliche Haus- und Erziehungsarbeit treibt auch heute viele Frauen in Zustände psychischer und körperlicher Überforderung – noch verschärft vom postmodernen Zwang zur Selbstperfektionierung (siehe Ulrike Heidenreich, Mütter im 21. Jahrhundert, SZ vom 20.11.12). 

  13. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 1975, S. 164f. 

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