Gespräch zwischen Mutter und Tochter

"Das ist lustig, dass du das nach all den Jahren fragst."

Das Gespräch nahm plötzlich seinen Anfang. Ich hatte meine Mutter kurz gefragt, ob sie am nächsten Morgen Zeit hätte für ein Gespräch über ihre Arbeitserfahrungen – und dann fing sie an. Fast ein Monolog von etwa einer Stunde. Stück für Stück in die Vergangenheit gehend, verwickelt in ihre Familiengeschichte. Meine Mutter, 1945 in Sri Lanka geboren, als eine von sieben Schwestern und einem Bruder. Ihre Mutter verstarb kurz nach ihrer Geburt, ihr Vater in ihren Jugendjahren. Ihr Bruder hatte seitdem in der Familie das Sagen gehabt. Nach der Schule machte sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau und arbeitete über Zeitarbeitsverträge in Bahrain, Singapore und London, kehrte zwischendurch immer wieder nach Sri Lanka zurück, bis sie 1984, als sie mit einem Schlepper nach Italien wollte, in West-Berlin aufgehalten wurde. Sie wurde in ein Heim gebracht, in dem sie meinen Vater, auch aus Sri Lanka stammend, kennenlernte. Seitdem lebt und arbeitet sie als Reinigungskraft in Berlin. Heute ist sie in Altersrente und geht weiterhin arbeiten.

Unser Gespräch fand zwar auf Deutsch statt, es ist aber nur ein für mich verständliches. Ich spreche die Muttersprache meiner Eltern nicht, im Englischen, womit sie mich in den ersten Jahren aufgezogen haben, fühlen wir uns beide nicht wohl und irgendwie hat sich seit meinen Kindergartenjahren die deutsche Sprache für uns durchgesetzt. Sie hat die Sprache aber nie richtig gelernt, sondern sie sich im täglichen Umgang erworben. Ich wiederum habe im Alltag ihre sprachlichen Eigenheiten gelernt. Unser Deutsch ist daher nur für uns verständlich. Dieses Gespräch wurde zweifach übersetzt: Geführt wurde es in unserem Deutsch, dann übertragen in eine für andere zugängliche Sprache und zuletzt rückübersetzt in unsere Sprache, um mit meiner Mutter die sprachlichen Änderungen des Interviews abzustimmen.

Es war das erste Gespräch dieser Art, das zwischen uns stattfand. Sie begann ihre Geschichte im Stehen. Nach den ersten fünf Minuten merkte ich, dass ihr Moment des Erzählens schon jetzt war und schaltete das Aufnahmegerät an.

Tochter: Wir haben gerade darüber gesprochen wie dir die Leute bei deiner Arbeit so begegnet sind.

Mutter: Ja, früher, als ich im Kindergarten geputzt habe, hatte ich viele Probleme. Du kennst die neue Leiterin der Kita, nicht? Und die hat immer etwas geschrieben, hat mir immer einen Zettel hinterlassen, aber ohne „Frau F“ oder so, sondern einfach nur „F, das und das muss gemacht werden!“ Sie hatte keinen Respekt. Aber die anderen Kindergärtnerinnen waren sehr nett. Deine Kindergärtnerin ist letztens, beim Kirchenfest, gekommen und hat mich umarmt und gesagt: „Ah, ich habe dich so lieb, Frau F“ und hat mich vor allen Leuten gedrückt! Ich und Papa saßen zusammen und sie hat mich dann zu sich an den Tisch genommen und mich ausgefragt, dass sie mich so lange nicht gesehen hätte, ich mich so lange nicht habe blicken lassen, und wie es denn dir gehen würde, was du machen würdest, ob ich ein Foto von dir hätte. Ich hatte leider kein Bild bei (lacht). Das sind wirklich nette Menschen, so was ist mir zuvor nie passiert. Aber diese neue Kitaleiterin! Die schrieb und schrieb: „F. diesmal müssen Sie das machen.“ Ich habe wirklich viel gemacht, aber Frau B., die Köchin der Kita, hat zu mir gesagt: „Fr. F., wenn du hier arbeitest, wirst du total fertig.“ Jeden Tag hat die Leiterin etwas geschrieben, aber wir haben später dann einfach nicht mehr geguckt. Und die andere, die Zahnärztin bei der ich früher gearbeitet habe, die hat immer bevor ich gegangen bin, gesagt: „Frau F., hast du das hier gesehen?“ Die stand am einen Ende des Raumes und hat in das andere Ende geschaut und auf irgendwelche kleinen Flecken oder Kratzer auf dem frisch polierten Boden gedeutet. Ich habe ihr daraufhin den Schlüssel in die Hand gedrückt.

T: Du hast aufgehört?

M: Ja, ich habe gesagt: „Heute ist der 31., morgen komme ich nicht mehr. Hier haben Sie den Schlüssel zurück.“ Dann habe ich noch bei einer anderen Frau gearbeitet. Das hat mir eine Nachbarin vermittelt. Ich habe bei ihr einmal die Woche geputzt. Sie hatte zwei Bäder mit weiß gefliesten Wänden und beide Bäder waren komplett grau! Als dann die Mutter von der Frau irgendwann zu Besuch kam, sagte sie: „Frau F., die Wohnung meiner Tochter sieht zum ersten Mal schön aus!“ Sie hatte noch nie die Fenster geputzt, aber zu mir hat sie gesagt, dass ich die Fenster putzen soll. Ich habe das alles gemacht. Und später, so nach fünf oder sechs Monaten, in denen ich für sie gearbeitet habe, sagte sie dann: „Frau F., schauen Sie mal, hier sind Flecken, da sind Flecken!“ Ich hätte ihr antworten können, dass ihre Wohnung, bevor ich kam, ein schmutziges Loch war und nachdem ich kam, sogar ihre Mutter gesagt hat, dass sie die Wohnung noch nie so sauber erlebt hätte. Aber ich habe nichts gesagt, nur: „Hier, bitte. Ihr Schlüssel, ich komme nicht mehr.“ Das Recht habe ich. Das kann ich immer sagen. Aber die zwei bei denen ich gerade arbeite, die haben sich noch nie beschwert. Beide geben mir zuverlässig das Geld und keiner sagt sowas wie: „Aha, heute bist du also früher gegangen.“ Auch wenn ich mal anrufe und sage, dass ich nächste Woche nicht kommen kann, sondern erst übernächste, dann ist das völlig okay. Die sagen auch nicht: „Hier ist ein Fehler“. Oder wenn ich mal Urlaub nehme, bitten sie mich auch nicht darum für meine Urlaubszeit eine Vertretung zu suchen. Das sagen die nie! Der Eine bezahlt sogar durchgängig das Geld, wenn ich im Urlaub bin. Er sagt, es sei mein Urlaubsgeld. Ich habe ihm bis jetzt auch nur einmal etwas mitgebracht aus dem Urlaub, sonst habe ich ihm dafür nie etwas gegeben. Was denkst du denn darüber, dass ich noch arbeite? Findest du das blöd, dass ich noch arbeite?

T: Nein, ich habe nur gefragt, weil ich interessiert war, warum du arbeitest.

M: Naja, wir bekommen wenig Geld, das weißt du ja. Zumindest nicht genug Geld. G. [eine Freundin] sagt häufig: „Fr. F., warum bleibst du zu Hause? Du kannst dir ein wenig Taschengeld dazu verdienen, wenn du voll arbeitest. Ich kann auch jemanden nach Arbeit fragen und dir Bescheid geben.“ Und auch J. [eine weitere Freundin] hat früher in mehr als zehn Häusern geputzt. Einmal hat sie mir auch eine der Wohnungen als ihre Urlaubsvertretung überlassen. Aber jetzt ist sie ja nicht mehr in Berlin. Sie ist jetzt in der Schweiz; ihr Mann hat da Arbeit gefunden und sie arbeitet jetzt auch da.

T: Ich kann mich noch daran erinnern, dass du davor in der Kirche gearbeitet hast. Wie kam es eigentlich dazu?

M: Ich habe am Anfang nur als Urlaubsvertretung für die eigentliche Putzfrau gearbeitet. Dann, das war glaube ich 2004, hat die Köchin deiner Kita mir Bescheid gegeben, dass die Stelle bald frei wird, weil die Kinder der damaligen Putzfrau zurück in die Heimat gefahren sind und sie ihren Kindern hinterher gereist ist. Also gab es keinen zum Putzen. Ich habe mich dann beworben und konnte sofort anfangen.

T: Und hast du angefangen zu putzen, weil wir das Geld brauchten oder weil du eine Arbeit wolltest?

M: Papa hat damals Zeitung ausgetragen und damals hat er auch mehr Geld bekommen. Aber ich habe früher – vor der Hochzeit – auch schon gearbeitet. Das war in einem Restaurant. Ich bin ganz früh hin und habe geputzt. Und angefangen habe ich sofort als ich nach Berlin gekommen bin. Ich habe damals einem Schlepper Geld gegeben und bin mit ihm nach Europa gekommen. Das Geld dazu hat meine Schwester in Sri Lanka von jemandem geliehen; ich musste also jeden Monat was zurückschicken, um den Kredit abzubezahlen. Dann, nachdem ich deinen Vater geheiratet habe, habe ich einmal einen Brief vom Mann meiner Schwester bekommen. Er hat mir Druck gemacht, dass ich mehr Geld schicken müsste, weil das Geld bis dahin nur reichen würde um die laufenden Zinsen zu decken. Ich habe den Brief damals Papa gezeigt. Er sagte nur: „Was soll das? Du schickst die ganze Zeit Geld und sie sagen jetzt, dass sie damit nur die Zinsen bezahlt hätten?“ Dein Vater hat einen Brief zurück geschrieben mit der Frage, wie viel Geld noch zu zahlen sei und hat dann das restliche Geld auf einmal zurückgezahlt. Dann war Schluss!

T: Aber warum bist du eigentlich mit Schleppern nach Deutschland gekommen?

M: In Sri Lanka gab es keine Arbeit. Ich habe davor immer für zwei, drei Jahre im Ausland gearbeitet und bin immer nach Sri Lanka zurückgekommen und dachte mir: es gibt nicht das, was wir brauchen und Krieg ist auch. Dann habe ich einen Schlepper aufgesucht, er versprach mir Arbeit in Italien. Und dann hat er mich hierher gebracht. Ich stand in einer U-Bahn Station, vom Flugzeug direkt von der Polizei festgenommen und die haben mich in ein Heim gebracht. Da habe ich dann Papa kennengelernt, aber in der Situation durfte ich nicht arbeiten, daher habe ich illegal gearbeitet: ohne Arbeitspapiere in einem kleinen Restaurant geputzt.

T: Aber warum bist du denn überhaupt damals ins Ausland gegangen?

M: Das habe ich doch gesagt! Damals war Krieg, nur mein Bruder hat gearbeitet, unsere Eltern waren gestorben …

T: Aber fast alle deine Schwestern haben geheiratet und sind in Sri Lanka geblieben, haben in Sri Lanka gearbeitet. Warum bist du ins Ausland gegangen?

M: In Sri Lanka hat niemand gearbeitet! Nur zwei meiner Schwestern haben gearbeitet, sonst keine. Ich habe dort auch nicht das gefunden, was ich haben wollte. In Bahrain, in Singapore, in London da haben wir alles bekommen, solang wir Geld hatten. Shampoo, Kleidung, all die schönen Sachen. Aber das hast du damals in Sri Lanka einfach nicht bekommen. Da habe ich mir gedacht: Ich muss wieder Arbeit finden, irgendwo hier. Und dann hat dieser Schlepper mir von Italien erzählt. Als ich dann aber hier war, in Deutschland, hat er mir erstmal verraten, was für eine Arbeit: im Zirkus! Ich war auch ganz schön verrückt früher…

T: Und was haben deine Schwestern dazu gesagt?

M: Was sollten sie schon sagen? Zu dieser Zeit sind viele Leute ins Ausland gegangen. Die haben bei ihrer Rückkehr immer erzählt, wie viel Rupees sie bekommen haben. In der ausländischen Währung war das nicht sonderlich viel, aber in Rupees hat sich das gut gerechnet. Das ist lustig, dass du das nach all den Jahren fragst (lacht).

T: Und bevor du in West-Berlin in dem Restaurant illegal geputzt hast, hast du ja immer über Zeitarbeitsverträge gearbeitet. Was genau hast du denn jeweils gemacht?

M: In London, da habe ich Wäsche in einem größeren Hotel gereinigt. Erst mussten wir die Bettwäsche zählen und dann reinigen. Das ging sechs Tage die Woche, sonntags hatten wir frei. Da konnten wir dann irgendwo zum Einkaufen gehen, unsere Wäsche waschen usw. Und nach Singapore sind wir über einen Zwei-Jahresarbeitsvertrag gekommen. Da haben wir aber einmal legal gearbeitet und für eine andere Firma dann noch illegal. Wir sind ganz früh morgens aufgestanden, haben gekocht und Essen in unsere richtige Firma mitgenommen. Das war eine gute Firma, eine Druckerei; als ich da befördert wurde, war ich verantwortlich für den Verkauf. Abends sind wir dann immer zu der anderen, illegalen Arbeit gegangen, das war dann wieder eine Druckerei. Da haben wir das Geld bar auf die Hand bekommen.

T: Und hast du das Geld immer nach Sri Lanka an deine Familie geschickt oder hast du das für dich behalten?

M: Das war vielleicht eine Dummheit! Meine Unterkunft und Verpflegung wurde ja alles von dem Hotel, in dem wir untergebracht waren, bezahlt. Mein Bruder in Sri Lanka hat deshalb gesagt: „Behalte das Geld, wir brauchen das nicht, eröffne ein Konto in England und zahle das Geld darauf ein und lass das dann ruhen.“ Das war meine Dummheit: als ich zurückgefahren bin nach Sri Lanka, habe ich all das Geld genommen, bin über Bahrain geflogen und habe ganz viele Geschenke für meine Geschwister in Sri Lanka gekauft: Fernseher, Monopoly, und so was. Mein halbes Geld war weg.

T: Und warum sagst du, dass sei dumm von dir gewesen? Das ist doch schön, du hast doch Geschenke an deine Schwestern gemacht…


T: Bevor du ins Ausland gegangen bist, hast du ja noch in Sri Lanka eine Ausbildung im Hotelmanagement angefangen. Warum wolltest du damals im Hotel arbeiten?

M: Ich bin zu zwei, drei Hotels gegangen, aber das ist das Problem: Ich kann die singhalesische Sprache1 nicht so gut. Ich spreche sie nur ein bisschen. Und dann bin ich auch nicht so groß und nicht so hübsch. Ich trage keinen Nagellack oder so was. Als Rezeptionistin musst du das mitbringen. Solche Frauen nehmen die, aber …

T: Aber warum bist du denn nicht Lehrerin oder Krankenschwester, wie deine Schwestern geworden? Du hättest ja andere Sachen machen können als im Hotelmanagement sein.

M: Mein Bruder hat sich gedacht, dass irgendjemand in der Familie Arzt werden muss. Früher, als wir zur Schule gingen, mussten wir erstmal zu Hause arbeiten: Wir hatten viele Kühe und Hühner und so was. Alles musste versorgt werden. Eine von uns hat die Wohnung sauber gemacht, eine musste das Essen vorkochen; wir hatten zwar eine Frau, die für uns gearbeitet hat, aber irgendwann mussten wir helfen. Wir mussten Sambal machen, für das Brot mussten wir erstmal das Mehl mit der Hand mahlen – früher war das so. Das haben wir alles gemacht. Wir haben viel gearbeitet und sind dann wieder in die Schule gegangen. Und ich hatte eine Oma, die Mutter meiner Mutter. Sie war bettlägerig, aß nur, wenn ich ihr das Essen gab. Wenn die Frau, die für uns gearbeitet hat, ihr das Essen geben wollte, hat sie nicht gegessen. Als mein Papa noch gelebt hat, hat er mich deswegen mit dem Auto von der Schule abgeholt. Mein Papa konnte damals die Hand nicht so gut bewegen und wir hatten kein Automatik-Auto, daher hat ein Mann ihn immer gefahren. Und der Mann hat immer gerufen: „Wo ist denn der Junge?“ Und meinte mich damit… (lacht).

T: Warum?

M: Ich habe früher immer kurze Haare gehabt und habe Shorts getragen. Das war einfacher für die Arbeit wir waren damals ja sieben Schwestern und er hat immer zu mir gesagt: „Wo ist denn der Junge?“

T: War das schlimm für dich?

M: Nee… sieben Tage nachdem mein Papa gestorben war, ist meine Oma ebenfalls gestorben. Das war alles ganz komisch danach. Mein Bruder war damals in der zehnten Klasse. Er war noch nicht in der Oberschule. Er hat damals angefangen auf uns aufzupassen. Da hat er sich in den Kopf gesetzt, dass eine von uns Arzt werden muss. Meine Schwestern waren aber alle nicht gut genug in der Schule und es war klar, dass ich Arzt werden muss. Daher hat er mich in die Nachhilfe gesteckt. Aber ich habe mich vor allem für Sport interessiert. Das war das Problem! Ich kam ganz spät nach dem Sport und bin nach Hause, um meinen Pflichten nach zu kommen und dann bin ich wieder zurück zur Nachhilfe. Manchmal auch noch in der weißen Schuluniform, weil keine Zeit zum umziehen war.

T: Warst du denn gut in der Schule?

M: Nein. Nicht gut genug für den Arzt. Aber ich war richtig gut im Sport. Ich hatte viele Urkunden und Medaillen und so was. Das spielen hier nicht viele Leute, Netball heißt das. Darin war ich gut.

T: Dann warst du fertig mit der Schule. Musstest du dann arbeiten oder was hast du gemacht?

M: Mein Bruder hat mich fürs Hotelmanagement angemeldet. Er hatte eine Anzeige in der Zeitung gesehen. Da bin ich dann hingegangen, nach Colombo, in die Hauptstadt und habe bei meiner Tante gewohnt.

T: Wie alt warst du damals?

M: Ich glaube 22, und mit 25 bin ich nach Bahrain gegangen. So alt, wie du jetzt bist.

T: Und du wolltest damals nicht heiraten? Ich meine, mit Anfang, Mitte 20, hast du dir da nicht die Frage gestellt?

M: Nachdem ich aus Bahrain zurückgekommen war nach Sri Lanka, habe ich mich mit meiner Schwester K. zur Ausbildung als Krankenschwester beworben. Wir wurden sogar zum Vorstellungsgespräch nach Colombo eingeladen. Es lief alles gut; aber dann ist der Mann meiner ältesten Schwester dazwischen gekommen. Er hat an Horoskope2 und so was geglaubt; jedenfalls hat er für uns eins erstellen lassen und uns mitgeteilt, dass wenn wir in ein Flugzeug steigen würden, würden wir abstürzen und nie wieder kommen. Daher hat er – ohne uns Bescheid zu sagen – unsere Bewerbung zurückgenommen.

T: Und wie hast du reagiert?

M: Wir konnten dazu nichts sagen. Dumm sind die alle.

T: Hast du ihm das irgendwann mal gesagt?

M: Nein (schweigt). Irgendwann haben wir ihm dann gesagt, wenn wir damals zur Ausbildung gegangen wären, hätten wir jetzt in London Krankenschwestern sein können. So war alles kaputt. Ich habe ihn gefragt: „Jetzt sind wir schon so oft geflogen und was ist passiert? Nichts!“

T: Was hast du dir damals mit 25 eigentlich gedacht, was du heute mit 60 machen würdest? Wolltest du wieder zurück nach Sri Lanka, wolltest du im Ausland leben, eine Familie gründen?

M: Ich dachte, ich könnte irgendwo in einem guten Hotel arbeiten. Aber das war in Sri Lanka nicht möglich, deswegen bin ich raus. Als ich dann zurück war, habe ich mich gefragt: was soll ich eigentlich in Sri Lanka? Ohne Arbeit, ohne … Dann bin ich ja nach Singapore gegangen und als wir zurückgekommen sind, war das ganz schön verrückt für mich. Deine Tante hat wieder angefangen als Krankenschwester in Sri Lanka zu arbeiten. Ich habe mir gedacht: nee, ich suche mir irgendwo einen Schlepper und gehe wieder zurück ins Ausland. So kam ich her.

T: Aber warum Europa? Warum bist du nicht nach Amerika oder Australien gegangen?

M: Das war alles viel teurer, viel teurer.

T: Und hast du eigentlich jetzt noch Lust zu arbeiten? Jetzt, wo du in Rente bist?

M: Ja, ich arbeite gerne.

Während der Arbeit an diesem Text wurde mir bewusst, aus welcher Perspektive sich mir bestimmte Fragen stellen, die sich für meine Mutter einfach nie ergeben haben. Meine geschlechterbezogene Rollenerwartung und auch Spuren bürgerlichen Wohlstandsfeminismus werden unter anderem in der sich wiederholenden Frage, warum sie denn angefangen habe zu arbeiten, sichtbar. Ich nahm an, dass sie sich ihr Recht zu arbeiten und ins Ausland gehen zu dürfen erst hat erstreiten müssen. Meine Mutter begreift sich hingegen als schon immer arbeitend. Erst nach der Fertigstellung des Textes bemerkte ich ein Unbehagen bezüglich der Rolle, die dieses Gespräch mit meiner Mutter in der outside einnehmen wird. Es ist der einzige Erfahrungsbericht, der aus der Perspektive einer working class-Migrantin erzählt und damit notgedrungen eine Sonderstellung innerhalb dieser Ausgabe einnehmen muss. Obwohl wir uns in der Redaktion mit dem Themenkomplex Weißsein/Rassismus/Privilegien auseinandersetzen, uns unserer blinden Flecken bewusst sind, ändert die Reflexion darauf doch nicht unmittelbar etwas an der Existenz bestimmter Leerstellen. Diesmal ist es dieses eine Gespräch, das auf diese Lücke verweist. Trotzdem bzw. gerade deswegen steht es nicht (nur) exemplarisch für die Erfahrungen migrantischer Arbeiter_innen in Deutschland: es bleibt die ganz eigene Geschichte meiner Mutter, unser persönliches Gespräch.

  1. In Sri Lanka werden Singhalesisch, Tamilisch und Englisch gesprochen. Erstere ist jedoch die meist verbreitete Sprache und für höher qualifizierte Berufe unerlässlich in Sri Lanka, wurde jedoch zu Schulzeiten meiner Mutter im regulären Schulunterricht nicht gelehrt. 

  2. In Sri Lanka ist es weit verbreitet, sich vor wichtigen Entscheidungen an Horoskopen oder numerologischen Deutungen zu orientieren. 

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