Anne Hofmann und Anna Kow im Gespräch mit Jutta Schwerin

„Wenn du nicht dein eigenes Geld hast, wenn jemand anderes das Geld verdient - das wäre dann eine große Ausnahme, wenn du dich damit frei fühlen könntest.“

Jutta Schwerin wird 1941 in Jerusalem geboren. Ihre Eltern Heinz und Ricarda Schwerin, die als deutsch-jüdisches Paar, Bauhaus-Studierende und Kommunisten im nationalsozialistischen Deutschland keine Zukunft haben, waren Anfang der 1930er Jahre nach Israel emigriert. Als Juttas Vater bei einem Einsatz der Hagana verunglückt, erklärt Ricarda ihrer Tochter: “Heinz war Kommunist, das darfst du nie vergessen.”1 Die Tochter vergisst es nicht und schließt sich als Jugendliche der Schomer Hatzair an, einer Jugendgruppe, in der “jüdische Identität, Sozialismus und Kibbuzromantik” vermittelt werden.

Nach dem Tod ihres Mannes sorgt Ricarda allein für ihre Familie und hält sich mit allerlei Dienstleistungen über Wasser. Die gelernte Fotografin, die zusammen mit Heinz eine Holzwerkstatt für Kinderspielzeug betrieben hatte, putzt, bügelt, züchtet Kaninchen und errichtet schließlich ein “Babyheim”. Erst viel später soll sie zur Fotografie zurückkehren - mit dem bitteren Beigeschmack, dass die gemeinsam erstellten Bücher und Ausstellungen den Namen ihres Partners Alfred Bernheim tragen und ihre Rolle somit auf die einer Assistentin reduziert wird. Bekannt geworden sind vor allem Ricarda Schwerins Portraitfotografien von Hannah Arendt. Mit Anfang 20 geht Jutta Schwerin nach Deutschland um Architektur zu studieren. Sie setzt ihre politischen Aktivitäten unter anderem als Mitglied des SDS fort. Dort lernt sie Ulrich Oesterle kennen, mit dem sie bald eine Familie gründen wird. Als Jutta sich Jahre später von ihrem Ehemann trennt, um mit einer Frau zusammen zu leben, reagiert ihre Mutter ablehnend: eine “kaputte Familie” sei etwas ganz Schlimmes und überhaupt die aktuellen Modeströmungen - “freie Erziehung, Freiheit für Frauen, Frauen-Kommunen” – nichts Neues, das habe es alles schon mal zu Bauhaus-Zeiten gegeben. Jutta Schwerin wird Stadträtin und später Bundestagsabgeordnete für die Grünen. Als solche erlangt sie 1988 Berühmtheit durch ihren Zwischenruf bei der Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 50jährigen Gedenken an die Reichspogromnacht. „Sie entlasten sich hier beim Gedenken an die Pogromnacht und liefern andere Menschen Pogromen aus!“, lautet der Vorwurf an Jenninger, der auf die Diskrepanz zwischen den angeblichen „Lehren aus der Geschichte“ und der aktuellen Asylpolitik hinweisen soll. Zudem engagiert sie sich in der Schwulen- und Lesbenpolitik. Die Begriffe “Lesben” und “Schwule” sind Ende der 1980er Jahre im Bundestag verpönt. “Niemand darf denen, die um ihre Befreiung kämpfen, vorschreiben, wie sie sich selbst zu bezeichnen haben”, findet Jutta Schwerin und schreibt in einem Brief an den Bundestagspräsidenten: “Wenn die Bezeichnungen ‘schwul’ und ‘Lesbe’ für den Bundestag nicht gut genug sind, wie ungemein schlecht muss es dann erst sein, als Schwuler oder Lesbe zu leben.”

Anfang 2012 erschien bei Spector Books, einem Verlag mit Bauhaus-Schwerpunkt, das Buch „Ricardas Tochter - Leben zwischen Deutschland und Israel“ von Jutta Schwerin. Als es uns in die Hände fiel, waren wir gleich sehr angetan: Die Autobiografie Jutta Schwerins, die zugleich die Geschichte ihrer Mutter Ricarda erzählt, berührt viele Punkte, die für uns als linke Feministinnen und Künstlerinnen von Belang sind. Wir baten Jutta um ein Interview und trafen sie Ende des Jahres in Berlin.

Anna Kow: Wie bist Du zum Feminismus gekommen?

Jutta Schwerin: Gar nicht so, wie es sich für einen politischen Menschen gehört … Ich habe Frauen kennen gelernt. Auf dem Spielplatz, eine Frau speziell, und ich habe dann auch immer mehr empfunden, dass ich lesbisch bin, und auf einmal gab es Frauengruppen! Die gab’s nicht in Ulm, aber in Frankfurt und in Berlin und du hast davon gehört und dann haben sich in Ulm ein paar Frauen zusammengetan, die das in Ulm aufbauen wollten und da war ich von Anfang an dabei. Ja, das hat was mit einem persönlichen Bedürfnis zu tun gehabt, mit Frauen zusammen zu sein.

Anna: Also kam die Politisierung dahingehend eher über das Lesbisch-Sein und nicht so sehr über die Erfahrung, als Frau in der Gesellschaft benachteiligt zu sein?

Jutta: Ja, so war das. Es gab im Frauenzentrum Frauen, die hatten entsetzliche Männer! Männer, die sie betrogen haben oder gewalttätig waren oder sich nicht die Bohne um die Kinder kümmerten. Die mussten schon deswegen Feministinnen werden. Aber mit so was konnte ich nicht aufwarten.

Anna: Wurde Dir das angelastet?

Jutta: Nein, aber … ich konnte da immer bloß zuhören, wie schrecklich das bei denen war. Es gab ja damals die Selbsterfahrungsgruppen, und da hat jede was erzählt und ich hatte dann gar nicht so viel zu sagen. Weil das war eigentlich ein netter Typ, mein damaliger Mann, der hat mir nix Böses getan und hat seine Aufgaben in der Familie erfüllt.

Anna: Und es gibt ja auch eine Stelle im Buch, wo Du schreibst, dass Du als Frau im Baugewerbe eigentlich kaum Probleme hattest, bis auf einmal, als irgendjemand hinter Deinem Rücken „Hemm’r an neia Schdift do?“(Schwäbisch für “Haben wir einen neuen Stift [Lehrling] da?”) gesagt hat - das fand ich ganz interessant, dass Du Architektur studiert hast und in diesem Bereich gearbeitet hast, der ja schon tendenziell eher ein Männerbereich ist …

Jutta: Damals war’s noch viel mehr ein Männerbereich. Ich habe immer selbstständig gearbeitet. Da gibt es den Auftraggeber und mich und die Handwerker. Ich war diejenige, die den Handwerkern sagen musste, was zu tun ist, und meistens ist das auch ganz gut gelungen. Also wenn’s gescheitert ist, dann nicht weil ich eine Frau bin. Oder nur selten.

Anna: Und Du hattest ja auch das Glück, dass offensichtlich der Vater Deiner Kinder und die Schwiegermutter Dich sehr unterstützt haben, Du also nicht dieses Problem hattest - zumindest scheint es im Buch so - allein zurückgeworfen zu sein auf diese Erzieherinnen-Rolle. Später wurde es dann schwieriger, alles unter einen Hut zu bringen. An einer Stelle schreibst Du: Wir wollten alles, Liebe, Kinder, Arbeit, Politik … und Du merkst dann, dass es nicht geht, nicht gleichzeitig. Dieser Moment, alles zu wollen, aber zu merken, es ist einfach nicht alles schaffbar - war das für Dich eine rein individuelle Sache? Oder hast Du das als Frauenschicksal oder als irgendwas Allgemeineres wahrgenommen?

Jutta: Ich denke, es geht nicht. Es geht nicht alles. Habt ihr Kinder, hat eine von Euch Kinder?

Anna und Anne Hofmann: Nein.

Jutta: Also ich denke, das geht eigentlich gar nicht. Ich denke, das würde nur gehen, wenn alle Menschen viel weniger Stunden erwerbstätig sein würden. Das, finde ich, wäre auch die Lösung, dass jeder nur sechs Stunden arbeitet und nicht acht oder zehn. Aber das soll ja angeblich gar nicht gehen.

Anna: Das will man uns glauben machen, ja.

Jutta: Und ich glaube, dass das sehr gut geht.

Anne: Aber siehst Du das auch konsequent? Geht das wirklich zusammen mit dem Kapitalismus? Hieße das nicht auch, den Kapitalismus in Frage zu stellen?

Jutta: Ja, die Kapitalisten wollen das nicht. Natürlich wollen die Kapitalisten, dass die Menschen viel arbeiten. Und dass sie nur ganz wenig bezahlt kriegen.

Anne: Noch eine Frage zu dem Architekturstudium, zur Architektur. Hat sich zwischen Deiner politischen Haltung und der Architektur eine Verbindung ergeben? Also zum Beispiel aus einer feministischen Auseinandersetzung mit dem Alltag der Frauen und Innenarchitektur …

Jutta: Da habe ich mich schon mit befasst. Also ich war ja im Gemeinderat und mitunter gab es da Wettbewerbe über Wohnen für Familie, da habe ich mich eingesetzt für frauen- und kinderfreundliches Wohnen. Meine Minimalforderung für eine Mehrpersonenwohnung war: „Ein Raum pro Person plus Gemeinschaftsraum“, wobei letzterer zur Not auch die Küche sein kann. Aber da habe ich nicht viele Erfolge gehabt. Meistens haben sich andere Sachen durchgesetzt. Große Wohnzimmer, kleine Kinderzimmer, kleine Küchen und fast nie ein eigenes Zimmer für jedes Elternteil. Das ist heute schon etwas besser. Ohne Politik. Das hat sich von selber schon durchgesetzt, die offene Küche und so.

Anna: In dem Moment, wo die Küche auch der Wohnraum ist oder der Aufenthaltsraum, wird die reproduktive Arbeit und das Zusammensein nicht so voneinander getrennt.

Jutta: Ja, genau.

Anna: Ich habe noch nie über die Politik der großen oder kleinen Küchen nachgedacht …

Jutta: Nicht? Also zu meiner Zeit hat man sich da richtig gefetzt!


Jutta: Ich will nochmal eine Frage anschneiden, die Ihr gestellt habt. Macht man eigentlich Politik, weil man sich in den Kopf gesetzt hat, dass man was ändern will, oder macht man Politik, weil man zu einer bestimmten Szene gehören möchte und weil man die, die das auch machen, gerne mag und gerne mit ihnen zusammen ist? Wie ist das bei Euch?

Ich habe immer selbstständig gearbeitet. Da gibt es den Auftraggeber und mich und die Handwerker. Ich war diejenige, die den Handwerkern sagen musste, was zu tun ist, und meistens ist das auch ganz gut gelungen.

Anna: Es muss schon so eine Art Grundinteresse geben. Ich glaube nicht, dass man links wird oder Feministin, nur weil man die Leute so spannend findet. Und selbst wenn es so wäre, müsste es ja auch einen Grund geben, warum man genau diese Leute spannend findet. Feministische Räume zum Beispiel sind ja nicht umsonst auch Schutzräume, in denen sich Menschen sicherer und ernster genommen fühlen können, sich vielleicht überhaupt zum ersten Mal trauen zu sagen, was sie denken. Sind das jetzt die netten Leute oder ist das der politische Inhalt, der diesen Raum schafft? Man kann das eine vom anderen hier gar nicht trennen. Oder wie ist das bei Dir? (zu Anne …)

Macht man eigentlich Politik, weil man sich in den Kopf gesetzt hat, dass man was ändern will, oder macht man Politik, weil man zu einer bestimmten Szene gehören möchte und weil man die, die das auch machen, gerne mag und gerne mit ihnen zusammen ist?

Anne: Bei mir ist das ein wenig schwer, weil ich ja auch aus einer Familie komme, die politisch war in der DDR und auch mit einem linken Freundeskreis und ich eher antiautoritär aufgewachsen bin und auf einer freien Schule war, wo schon eher Sachen thematisiert wurden. Diese gesellschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeiten, die aus der Biografie und Geschichte meiner Familie resultierten und dem Land in dem sie gelebt haben, die habe ich als schmerzhaft mitbekommen und war deshalb sehr offen für diese gesellschaftlichen Widersprüche, auch durch die Auseinandersetzung in der Familie, was da gelebt wurde. Also jeglicher Art, ob das in der Politik, in der Sexualität, in Beziehung, mit der Schule war. Natürlich gibt es da Widersprüche, die gibt es einfach. Wie kritisch man sich damit auseinandersetzt, entscheidet auch darüber wie politisch man wird, auch in Bezug auf Geschichte. Wenn ich dafür aufmerksam bin, dann habe ich auch was zu sagen und ich will das verändern und ich will, dass es gut ist, ich will, dass mit den Widersprüchen umgegangen wird, dass man darüber sprechen kann.

Jutta: Also es hat damit zu tun, dass Du selber aus so einer Familie kommst, wo es wenig gab, wenig Geld gab und viel Arbeit und …

Anne: … und natürlich auch ein kritisches Umfeld. Aber ich kenne das auch von Freunden, die aus sehr konservativen Familien kommen, die dann aus genau diesen Widersprüchen heraus dieses Begehren entwickelt haben. Dieses Nein, diese Widersprüche will ich nicht aushalten, ich will anders leben!

Anna: Ich würde gern nochmal auf das Thema Arbeit zurückkommen. Gab es innerhalb dieser linken Kontexte, auch innerhalb Deines persönlichen Lebens, in irgendeiner Form eine Auseinandersetzung mit Arbeit, also eine Arbeitskritik? Oder war das eher etwas, was einfach da war und gemacht werden musste?

Jutta: Die Arbeit war da und musste gemacht werden. Ich konnte mir das nicht aussuchen. Wenn ich das eine machte, musste ich das andere vernachlässigen. Aber die Arbeit war mir immer sehr, sehr wichtig. Und wichtig auch, dass es so wird, dass ich das gut finde und wenn es nicht gelungen ist, dann habe ich das als große Niederlage empfunden.

Anna: Also jetzt in Bezug auf Deine Arbeit als Architektin?

Jutta: Als Architektin und als Politikerin. Auch wenn ich was schreibe, ist mir schon sehr wichtig, dass ich das dann gut finde - und dass bestimmte Leute, die mir wichtig sind, das gut finden. Das größte Leiden hinsichtlich der beruflichen Arbeit war eigentlich wirklich dieser Widerspruch zwischen: sich der Arbeit widmen und sich den Kindern widmen. Und das war immer mit Schuldgefühlen verbunden, die ich erst losgeworden bin, seit meine Kinder erwachsen sind. Dieser Widerspruch und die Schuldgefühle lassen sich meiner Meinung nach überhaupt nicht vermeiden.

Anne: Aber zum Beispiel steckt auch in dem Bild der emanzipierten Frau in der DDR, dass, wenn die Frau in den Produktionsprozess eingebunden wird und ist, sie auch befreit ist, emanzipiert. Das sind die starken Frauen, die Frauen helfen mit….

Jutta: Ja ja, „helfen mit …“ (lacht)

Anne: Und damit ist natürlich ein bestimmtes Frauenbild verbunden, dass Frauen, wenn sie das alles auf sich nehmen, reproduktive Tätigkeiten, produktive Tätigkeiten, als emanzipiert gelten. Der Druck ist dann viel höher, gerade wenn man von diesem idealisierten Emanzipationsbegriff ausgeht …

Jutta: Du hast jetzt einen ganz anderen Aspekt mit rein gebracht. Nämlich diesen Aufbaugedanken und das WIR und die DDR. Die Frauen helfen mit am sozialistischen Aufbau. Das ist ja ein Aspekt, der nirgends existiert hat, wo ich gelebt habe.

Anne: Ich habe das deshalb gesagt, weil es dieses Bild einer Frau gibt - in der DDR hat man es vielleicht direkter benannt, aus anderen Gründen - aber auch in Westdeutschland gab es das Bild, dass die Frau erst dann ›emanzipiert‹ ist, wenn sie arbeitet. Das Bild einer emanzipierten starken Frau ist nicht das Bild einer Hausfrau und nicht das einer Mutter.

Jutta: Im Negativen stimmt das, also wenn eine Frau nicht erwerbstätig ist, dass sie dann bei ihren erwerbstätigen Freundinnen wahrscheinlich als nicht emanzipiert gilt. Also dass dieses Erwerbstätig-Sein sozusagen zur Pflichtübung für Emanzipation wird.

Anne: Und auch da steckt ein ganz bestimmter Emanzipationsbegriff darin, der gar nicht davon ausgeht, wie reflektiert die Frau ist, für was sie kämpft, was sie im Alltag erreichen will. Wie Du zum Beispiel sagst: Du willst einen guten Text schreiben und gleichzeitig gut für Deine Kinder da sein. Stattdessen geht es eigentlich nur um eine in der Öffentlichkeit emanzipiert erscheinende Frau, die alle ihre ›richtigen‹ Aufgaben erfüllt. Aber es wird nicht gefragt, was Emanzipation da bedeutet und wovon sie sich emanzipiert, also was das ist, wovon die Frau sich emanzipieren will…

Jutta: Du meinst, sie sollte sich von der Erwerbstätigkeit emanzipieren?

Anna: Alle sollten sich von der Erwerbstätigkeit emanzipieren … (lacht)

Anne: Wenn sie das könnten … Aber die Frage ist auch, durch was und mit welchen Gedanken sich Frauen emanzipieren. Was möchten sie? Auch wenn sie es vielleicht nicht sofort erreichen können. Frauen sind für mich vor allem emanzipiert, wenn sie nicht alles erfüllen, wenn sie kritisch reflektieren, einen Anspruch haben. Viele Frauen definieren sich über die Lohnarbeit als emanzipiert, aber ist damit alles erreicht? Hier ist einfach auch die Frage nach dem Begriff der Emanzipation …

Jutta: Aber das heißt, dass du die sogenannte Hausfrauenarbeit als Arbeit anerkennen müsstest, aber die ist nicht anerkannt als Arbeit. Wäre das das Ziel, dass diese Arbeit anerkannt ist? Und am besten anerkannt wäre sie, wenn sie bezahlt würde. Und da kommst du wieder auf Forderungen nach Lohn für Hausarbeit und so weiter. Was die Frauenbewegung normalerweise abgelehnt hat und zwar ganz radikal.

Anne: Aber das ist ja genau die Frage, ob man Emanzipation an der Lohnarbeit messen muss und nicht zum Beispiel auch an einem Versuch der geistigen Emanzipation, zum Beispiel für eine befreite Gesellschaft zu denken …

Jutta: Wenn du nicht dein eigenes Geld hast, wenn jemand anderes das Geld verdient - das wäre dann eine große Ausnahme, wenn du dich damit frei fühlen könntest.


Jutta: Bei den Grünen gab es ja die sogenannte Müttergruppe. Habt ihr davon schon mal was gehört? Da gab es große Konflikte zwischen ›Linken‹ und ›Realos‹, und auf einmal ist auf der ›Realo‹-Seite als Pendant gegen die linken Feministinnen die Müttergruppe ins Leben gerufen worden. Da wurde die Rolle der Mutter sehr idealisiert und angeprangert, dass überhaupt nicht anerkannt wird, was die alles tut. Die Feministinnen wurden gebrandmarkt als ›Aquariumsfrauen‹, also die da irgendwo rumschwimmen und sich ein schönes Leben machen, während die anderen echte Mutterpflichten erfüllen. Das war ziemlich furchtbar. Ich kam dann plötzlich mitten in diese Mütterdiskussion und hatte keine Ahnung davon und habe gemerkt, dass ich zwar mit den linken Frauen befreundet bin, dass ich aber viele Argumente der Mütter eben doch sehr einleuchtend finde. Ich bin total zwischen die Fronten geraten. (lacht) Da habe ich dann - unabhängig von den Müttern - ein Papier verfasst, wo ich die Meinung vertreten habe, dass es Lohn für Erziehungsarbeit geben muss. Ich nannte es sogar Betreuungsgeld, wenn ich mich nicht täusche. Da waren meine Freundinnen total erschüttert, dass ich so etwas verfasst habe, womit ich doch diesen Müttern in die Hände arbeitete! Es war total furchtbar. Und die Mütter fanden das ganz toll und haben mich dann eingeladen, ich soll das vortragen, habe ich auch gemacht. Ich bin natürlich trotzdem eine Linke geblieben. Ich war einfach der Meinung, dass die Erziehungsarbeit eigentlich bezahlt werden muss und dass sie, wenn sie nicht bezahlt wird, immer als minderwertig stigmatisiert wird. Und eigentlich bin ich heute noch der Meinung und habe gegen dieses CSU Betreuungsgeld vor allem den Einwand, dass es so niedrig ist, dass kein Mensch davon leben kann. Die wollen ja, glaube ich, 150 € bezahlen. Ja, ich dachte, man muss ein richtiges Gehalt zahlen, so dass Frau oder Mann davon leben kann. Eine Arbeit, für die so wenig Geld angesetzt wird, wird im Grunde verachtet und das ist das, was die CSU tut. Dann kam natürlich der Einwand: wie willst du das eigentlich finanzieren? Das lässt mich überhaupt kalt, wenn man eine Utopie schmiedet. Du musst erst mal wissen, was du willst. Man finanziert ja sonst was.

Anna: Die Kritik an dem Betreuungsgeld, aus feministischer Perspektive, geht ja eher in die Richtung, dass es der CSU eigentlich darum ginge, die Mütter wieder zurück an den Herd zu kriegen. Das ist ja genau diese zweischneidige Geschichte: Einerseits, klar - Lohn für Hausarbeit oder Erziehungsarbeit, da würde ich dir völlig recht geben. In dem Moment, wo etwas entlohnt wird, wird es auch gesellschaftlich ernst genommen, da gibt es so einen Moment von Wertschätzung, oder von gesellschaftlicher Relevanz, die sich darin ausdrückt. Aber andererseits gibt es natürlich auch die berechtigte Angst, dass dadurch Frauen wieder aus dem Erwerbsleben und damit auch öffentlich-politischem Leben zurückgedrängt werden.

Jutta: Ja, aber ich dachte natürlich, wenn das ordentlich bezahlt wird, dann würden sich auch Männer darum reißen, das zu machen.

Anna: Noch eine Frage zu den linken Feministinnen, was hatten die denn für Vorstellungen? Was war deren Meinung zu Reproduktionsarbeit und zu Lohnarbeit?

Jutta: Die haben gemeint, das muss geteilt werden zwischen Mann und Frau. Und zwar gab es da ganz abenteuerliche Ideen, dass man es auch zwangsweise teilt. Also dass der Mann nicht arbeiten darf, wenn er kleine Kinder hat, oder nur 6 Stunden arbeiten darf. Das finde ich auch gut, ja. Oder dass man Propaganda-Aktionen macht, wenn einer das nicht macht, den als Drückeberger oder Feigling brandmarkt. (lacht) Wieso? Das ist doch richtig … So nach dem Motto: Haben sie an der Wickelkommode gedient? Dass er dann auch überhaupt keine guten Jobs kriegt, wenn er das nicht gemacht hat und so …

Anna: Aber diese grundsätzliche Infragestellung von Lohnarbeit hat nicht so sehr stattgefunden, oder doch?

Jutta: Nein, die hat überhaupt nicht stattgefunden. Es ging eher in die Richtung von grundsätzlicher Infragestellung vom Kinderkriegen. Nach dem Motto: wieso überhaupt - es gibt doch schon so viele Menschen auf der Welt. Was ich auch teile in gewisser Weise. Aber es gibt doch offensichtlich ein Bedürfnis von Menschen, Kinder zu bekommen, von sehr vielen zumindest, sicher nicht von allen. Eigentlich war diese Diskussion abseits jeglicher Vernunft. Man hat sich sinnlos gefetzt und eigentlich ging es um Macht in der Partei. Es war eine hässliche Zeit und ich bin zwischen allen Fronten gewesen. Die Mütter wollten mich, aber ich wollte eigentlich nicht zu den Müttern gehören, weil die Linken die Mütter gehasst haben … (lacht)

Anne: Hattest Du irgendwann mal das Gefühl, dass realpolitische Auseinandersetzungen, wie sie ja dann werden, wenn man sich gegenseitig brandmarkt und aber gesellschaftlich sich wenig ändert, problematisch sind? Wurde an gesellschaftlichen Grundfesten überhaupt kritisiert?

Jutta: Wenig, sehr wenig.

Frauen sind für mich vor allem emanzipiert, wenn sie nicht alles erfüllen, wenn sie kritisch reflektieren, einen Anspruch haben. Viele Frauen definieren sich über die Lohnarbeit als emanzipiert, aber ist damit alles erreicht?

Anne: Und denkst Du, das könnte zum Beispiel an der Form der Realpolitik liegen?

Jutta: Die Lohnarbeit wurde nicht kritisiert. Es läuft dann die Diskussion Grundsicherung, dass jeder und jede Geld hat und keine Lohnarbeit mehr machen muss. Deswegen geht es mir jetzt gut, weil ich jetzt eine Rente kriege, zwar nicht so hoch, aber ich kann einfach Lesungen umsonst machen und kann auch die Reisen einigermaßen finanzieren. Dass ich machen kann, was ich will, das ist eine tolle Lebensart, aber das habe ich erst mit 65 bekommen. Und das sollte der Mensch eigentlich immer haben.


Jutta: Meine Mutter hätte ja liebend gern sofort als Fotografin gearbeitet. Aber die hat ja jede Arbeit machen müssen, damit sie überhaupt Geld hat. Also sie musste arbeiten und zwar nicht nur 6 Stunden, sondern sehr sehr viel und unter sehr schwierigen Bedingungen. Das ist bei den meisten Menschen der Fall. Wenn ich jetzt sage, ich möchte gute Texte machen, oder gute Gestaltung, ist es ein Privileg, das überhaupt anstreben zu können.

Anna: Und Ricarda hat tatsächlich erst dann wieder als Fotografin gearbeitet, als sie Alfred Bernheim getroffen hat und sich da so angliedern konnte an seine Strukturen?

Jutta: Ja, genau, er hatte ein Atelier, seine Frau war seit einiger Zeit tot, seine Kinder waren weg und sie hatte immer noch das Babyheim. Da haben die beiden sich angefreundet. Sie hat ihn sehr sehr geliebt. Da war es irgendwie logisch, dass sie zu ihm in das Atelier geht. Das war eine sehr gute Zeit für sie und auch für uns. Und dass sie da eigentlich zu kurz gekommen ist, das ist ihr erst viel viel später aufgefallen. Am Anfang war es ja so, sie war raus aus dem Beruf, mehrere Jahre. Sagen wir mal 1956 hat das angefangen mit Bernheim und ihr, und sie hat ja seit sie vom Bauhaus kam, sich nicht mehr mit Fotografie beschäftigt, das waren ja fast 20 Jahre. Da war das irgendwie logisch, dass er der Meister war und sie die Assistentin. Sie fand das toll, sie hat ihn bewundert. Sie hat ganz viel von ihm gelernt. Aber irgendwann hat sie sich dann ebenbürtig gefühlt, natürlich hat sie nebenbei die ganze Hausarbeit gemacht, dort und bei uns, es gab ja zwei Wohnungen, unsere und seine Wohnung. In seiner Wohnung wurde gearbeitet, aber auch für alle gekocht, also wir sind dann dorthin zum Essen. Das hat sie alles gemacht. Sie hat fotografiert und die Hausarbeit gemacht. Es gab noch eine Putzfrau, aber trotzdem.

Anna: Vielleicht ist das eine naive Frage, aber wieso hat Ricarda nicht versucht, vorher schon in ihrem Beruf zu arbeiten? Sie hat ja mit Deinem Vater die Holzwerkstatt gehabt und hat sich dann ja eben mit solchen Dienstleistungen durchgeschlagen. Wieso hat sie dann nicht weitergemacht mit der Werkstatt, oder mit der Fotografie?

Jutta: Also mit der Werkstatt konnte sie nicht weitermachen, die Werkstatt war verschuldet und ist dann verkauft worden. Von der Fotografie hätte sie nicht leben können. Sie musste ja sofort Geld verdienen, als mein Vater starb. Da gab es vielleicht so viel wie ungefähr 150 € für die Familie vom Staat. Und außerdem hatte sie noch die zwei Großeltern. Sie musste für fünf Personen sorgen und zwar von einem Tag auf den anderen. Ich meine, wer kann denn heute schon von der Fotografie leben, sehr wenige. Das war damals genauso. Dass sie mit Heinz, meinem Vater, die Spielsachen gemacht hat, und nicht stattdessen fotografierte, das lag bestimmt an der Freude daran, mit ihm was zusammen zu machen. Also sie hatte immer solche Partnerschaften, wo man gemeinsam was macht. Das ist ja auch toll.

Anne: Womit beschäftigst Du Dich gerade?

Jutta: Mit dem Alt werden. (lacht) Jetzt bin ich mit den Lesungen beschäftigt und überlege mir dann immer, was ich bringe, was ich mache. Ich beschäftige mich immer noch sehr mit Israel, mit dieser Frage, was gibt es für eine Lösung, bin da sehr ambivalent. Ja das sind so die Sachen, die mich beschäftigen. Ich versuche gesund zu bleiben.

  1. Alle Zitate aus: Jutta Schwerin: Ricardas Tochter. Leben zwischen Deutschland und Israel, Spector Books 2012. 

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